Der Riese stürmte weiter die Treppe hinauf, öffnete schließlich eine Tür, indem er grob mit dem Fuß dagegen trat, und marschierte in eine winzige Kammer. Mit Ausnahme eines einzigen Möbelstückes war sie vollkommen leer.
Dieses Möbelstück war ein gewaltiger hölzerner Waschzuber: eine hölzerne Badewanne, die große Ähnlichkeit mit einem in der Mitte durchgesägten Bierfass hatte, aber viel größer war. Sie war fast bis zum Rand mit Wasser gefüllt.
Der Riese stopfte ihn ohne viel Federlesens hinein.
Das Wasser war so kalt, dass Kim im ersten Moment glaubte einen Herzschlag zu bekommen. Er hätte geschrien, aber er konnte es nicht, weil der Riese ihn immer wieder hochhob und untertauchte, genau so, als wäre er ein Wäschestück, das er auswaschen musste. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis er endlich von ihm abließ, sodass Kim wenigstens wieder halbwegs zu Atem kam.
»Bist du ... verrückt?«, japste er atemlos. »Wolltest du mich ... umbringen?«
»Warte ab, bis ich dich auswringe«, knurrte der Riese. Er trat einen Schritt zurück und musterte Kim kritisch.
»Du stinkst immer noch«, sagte er. »Aber du siehst jetzt wenigstens nicht mehr aus wie ein Stück von dem, wonach du riechst. Jetzt können wir zu Themistokles gehen.«
»Das wird aber auch Zeit!«, maulte Kim. »In spätestens zehn Minuten wirst du dich bei mir entschuldigen, das versichere ich dir.«
Er versuchte aus dem Waschzuber zu klettern, aber dem Riesen ging das offensichtlich nicht schnell genug, denn er packte ihn und warf ihn sich erneut über die Schulter. Kim sparte sich den Atem, gegen die grobe Behandlung zu protestieren. Er wusste, dass es ohnehin sinnlos gewesen wäre.
Sie gingen eine weitere Treppe hinauf und betraten einen runden Raum, der das gesamte obere Stockwerk des Turmes einnehmen musste, denn es gab Fenster an allen Seiten. Die Wände waren mit Regalen voll gestellt, auf denen sich eine Unmenge von Büchern, Pergamentrollen und Folianten, aber auch Tiegel, Töpfe und Glaskolben, Säcke und hölzerne Schachteln und tausend andere Dinge stapelten. Themistokles saß an einem riesigen Schreibtisch, der genauso unordentlich war wie seine Regale, und schrieb mit einer Feder in ein riesiges Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag. Obwohl er ihnen den Rücken zudrehte, erkannte Kim ihn sofort.
»Was gibt es denn?«, fragte Themistokles ohne sich herumzudrehen oder im Schreiben innezuhalten.
»Ich habe einen von ihnen geschnappt«, polterte der Riese. »Die Burschen werden immer vorwitziger. Sie halten sich nicht einmal mehr an den Burgfrieden. Der hier scheint ein ganz besonders dreistes Früchtchen zu sein.« Er setzte Kim mit einem Ruck zu Boden.
Themistokles seufzte. »Gorg«, sagte er. »Wie oft habe ich dich schon gebeten, dein Spielzeug nicht mit hier herauf zu bringen?«
Er ließ seine Feder sinken, drehte sich in seinem Stuhl herum und lächelte freundlich.
»Hallo, Kim«, sagte er. »Ich muss schon sagen, diesmal hat es ziemlich lange gedauert.«
Geschlagene zehn Sekunden lang stand Kim einfach da und starrte den Zauberer an. Dann drehte er sich langsam herum und maß den bärtigen, grauhaarigen Giganten hinter sich mit einem langen Blick.
»Gorg«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich hätte eigentlich gleich darauf kommen können. Ich kenne nur einen Menschen mit einem so sonderbaren Sinn für Humor.«
»Humor?« Gorg grinste. »Man braucht keinen besonderen Sinn für Humor um zu erkennen, wenn jemand ein Bad nötig hat.«
»Auswringen«, erinnerte Kim.
Gorg grinste noch ein bisschen breiter und zuckte mit den Achseln und dann musste auch Kim lachen. Trotzdem kostete es ihm einige Mühe, sich sein Erschrecken nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Es fiel ihm noch immer schwer, zu akzeptieren, dass der uralte Mann vor ihm tatsächlich Gorg sein sollte. Er war noch immer ein Riese. Unter all den Falten und Runzeln in seinem Gesicht waren noch immer die vertrauten Züge und in seinen Augen glitzerte nach wie vor der Schalk. Und wie stark er trotz allem noch war, das hatte Kim vor wenigen Augenblicken am eigenen Leib gespürt.
Das alles änderte aber nichts daran, dass Gorg ein uralter Mann geworden war. Kim schätzte ihn auf mindestens siebzig oder achtzig Jahre und das war noch eine sehr freundliche Schätzung.
Zögernd drehte er sich wieder zu Themistokles herum und unterzog auch ihn einer ausführlicheren Inspektion.
Auch Themistokles hatte sich verändert, allerdings war Kim nicht so leicht in der Lage, diese Veränderung in Worte zu fassen. Themistokles war schon ein uralter Mann gewesen, als sie sich das erste Mal begegnet waren, aber das musste nichts bedeuten; schließlich gebot Themistokles über die geheimen Kräfte der Magie, die auch die Zeit zu beeinflussen vermochten. Trotzdem hatte er sich verändert.
So wie ja überhaupt alles hier irgendwie anders war ...
»Ihr habt also gewusst, dass ich hier bin«, sagte er nach einer Weile.
»Auf dieser Welt geschieht nicht viel, ohne dass ich davon erfahre«, antwortete Themistokles. »Das solltest du wissen.«
»Dann frage ich mich, warum ihr mir nicht entgegengekommen seid«, sagte Kim. »Es war nicht gerade leicht, hierher zu kommen.«
»Ich weiß«, antwortete Themistokles. »Und ich verstehe deinen Ärger. Aber gewisse ... Umstände haben es uns leider unmöglich gemacht, diesen Palast zu verlassen.«
»Gewisse Umstände«, wiederholte Kim. »Sitzen sie auf Pferden, haben Schwerter und Bogen und sind ziemlich streitlustig?«
»So könnte man es ausdrücken«, bestätigte Themistokles mit einem angedeuteten Lächeln. »Aber Gorg und ich waren uns sicher, dass du einen Weg findest um zu uns zu kommen. Wir haben uns nicht getäuscht.«
»Ja«, sagte Kim säuerlich. »Das stimmt. Aber ich hatte Hilfe. Wo wir schon einmal bei diesem Thema sind: Ist die Elfe nicht gekommen?«
»Welche Elfe?«, fragte Themistokles stirnrunzelnd.
»Twix«, antwortete Kim. »Ich hatte sie zu euch geschickt.«
»Es gibt keine Elfen mehr«, sagte Themistokles traurig. Dann deutete er mit dem Daumen über die Schulter zurück und fügte hinzu: »Außer dieser einen da vielleicht.«
Kims Blick folgte der Geste. Auf Themistokles' überquellenden Regalen entdeckte er ein simples Einmachglas, in dem Twix gefangen war. Die Elfe presste das Gesicht gegen das Glas, schlug wild mit den Flügeln und hämmerte mit den winzigen Fäusten gegen die durchsichtigen Wände ihres Gefängnisses.
»Aber das ist sie ja!«, rief Kim.
Themistokles blinzelte. »Oh, tatsächlich? Sie flatterte vor ein paar Minuten durch das Fenster herein. Ich habe sie eingefangen, weil ich dachte, sie würde sich gut auf einem Regal machen.«
Kim trat rasch hin, nahm das Einmachglas vom Regal und öffnete den Deckel. Twix flatterte lauthals schimpfend heraus und landete nach ein paar Schleifen und Kehren auf seiner Schulter.
»Die Kerle haben mich einfach eingefangen!«, beschwerte sie sich. »Sie haben mich nicht einmal zu Wort kommen lassen.«
»Schade«, sagte Gorg enttäuscht. »Sie hätte eine hübsche Lampe abgegeben.«
»Elfen leuchten nicht im Dunkeln, du großer Tölpel!«, belehrte ihn Twix.
»Wenn man sie anzündet, schon«, sagte Gorg ernst.
Twix wurde kreidebleich und Kim drehte sich rasch herum und wandte sich wieder an Themistokles, bevor Gorgs Scherze noch geschmackloser werden konnten.
»Was ist hier nur geschehen, Themistokles?«, fragte er. »Sind hier denn alle verrückt geworden?«
»Das ist eine lange Geschichte, Kim«, antwortete der Zauberer. »Vieles davon weißt du bereits, aber die genauen Zusammenhänge sind nicht so leicht zu erklären. Ich werde es gern versuchen, aber es wird seine Zeit dauern. Du musst müde sein. Warum ruhst du dich nicht erst einmal aus und wir reden heute Abend beim Essen darüber? Ich habe im Moment noch einige wichtige Arbeiten zu erledigen.«