Er deutete auf das aufgeschlagene Buch hinter sich. Kims Blick folgte der Bewegung und er entdeckte etwas wirklich Eigenartiges: Die aufgeschlagene Seite war vollkommen leer. Verwirrt streckte er die Hand aus und blätterte ein paar Seiten zurück. Auch sie waren leer. Das ganze Buch war vollkommen leer.
»Eine wichtige Arbeit?«, fragte er stirnrunzelnd.
Themistokles nickte heftig. »Ich bin der letzte Zauberer Märchenmonds«, sagte er. »Wenn ich irgendwann nicht mehr da bin, dann wird es niemanden mehr geben, der sich auf die alte Kunst der Magie versteht. Deshalb habe ich begonnen all mein Wissen in dieses Buch niederzuschreiben.«
Kim blickte nachdenklich auf die jungfräulichen weißen Blätter hinab.
»Aber es ist völlig leer«, sagte er zögernd.
Themistokles lachte voller gutmütigem Spott. »Das scheint nur so«, sagte er. »Du kannst dir vorstellen, wie gefährlich ein solches Buch wäre, geriete es in die falschen Hände. Aus diesem Grund habe ich natürlich gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen.«
Er tippte mit dem Zeigefinger gegen das Tintenfass, in das er seine Feder gesteckt hatte. Kim beugte sich vor und stellte fest, dass es ebenfalls leer war.
»Keine Tinte?«, fragte er.
»Unsichtbare Tinte«, verbesserte ihn Themistokles. »Es macht das Schreiben zugegebenermaßen etwas schwierig, aber es verhindert auch, dass jemand meine Zaubersprüche missbraucht.«
»Aha«, sagte Kim. Er war nicht ganz sicher, ob Themistokles ihn nicht einfach auf den Arm nehmen wollte.
»Und wie macht man sie wieder sichtbar?«
»Das habe ich vergessen«, gestand Themistokles, machte aber gleichzeitig eine besänftigende Geste. »Ich weiß, was du sagen willst. Aber keine Sorge. Natürlich habe ich es aufgeschrieben. Gleich auf einer der ersten Seiten.«
Er begann in seinem Zauberbuch zu blättern, warf einen ziemlich ratlosen Blick auf die erste Seite, blätterte weiter, runzelte die Stirn und schlug die nächste Seite auf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht schwankte dabei zwischen Ratlosigkeit und Bestürzung.
»Sieht so aus, als hättest du ein Problem«, piepste Twix.
»Nun«, begann Themistokles zögernd. »Ganz so würde ich das vielleicht nicht ausdrücken. Ich sehe es eher als ... intellektuelle Herausforderung.«
»Als was?«, fragte Twix.
»Davon verstehst du nichts«, sagte Kim rasch und wandte sich an Gorg. Der Riese hatte ihnen bisher schweigend zugesehen, aber tief in seinen Augen glaubte Kim einen Ausdruck von Sorge zu erkennen, der ihn erschreckte.
»Ich sollte dir jetzt viel besser dein Zimmer zeigen«, sagte der Riese, als er Kims Blick spürte. »Obwohl du dir eigentlich aussuchen kannst, wo du schlafen willst. Es sind genug Zimmer frei.«
Kim blickte ihn fragend an und Gorg fuhr in erklärendem Tonfall fort: »Der Palast steht zum allergrößten Teil leer. Außer Themistokles und mir sind nicht mehr viele hier.«
Kim drehte sich wieder zu Themistokles um, aber der alte Zauberer war so sehr damit beschäftigt, hektisch in seinem Buch zu blättern, dass er ihn gar nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen schien.
Gorg warf ihm einen bezeichnenden Blick zu und Kim verließ zusammen mit ihm die Turmkammer. Kaum aber waren sie draußen, da hielt er es nicht mehr aus. »Um Himmels willen, Gorg!«, platzte er heraus. »Was geht hier vor? Was ist mit Themistokles geschehen?«
»Er wird alt«, sagte Gorg. »Aber keine Sorge - er ist nicht immer so. An manchen Tagen ist er ganz der Alte.«
»Und an den anderen?«, fragte Kim.
Gorg schwieg.
Aber im Grunde war das schon Antwort genug.
Trotz allem hatte er das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Gorg führte ihn in ein luxuriös ausgestattetes Gästezimmer, das er zu seiner großen Freude als das wieder erkannte, das Rebekka und er während ihres Aufenthalts in Gorywynn bewohnt hatten. Kim verband mit diesen Räumen eine Menge schöner und angenehmer Erinnerungen, sodass er sich fast augenblicklich wieder ein gutes Stück wohler fühlte. Er erhob keine Einwände, als Gorg fragte, ob er ihn für eine Weile allein lassen könne, da noch gewisse Vorbereitungen zu treffen seien, und sich daraufhin zurückzog.
Die behagliche Umgebung, das Gefühl, vielleicht zum ersten Mal wirklich in Sicherheit und bei Freunden zu sein, und nicht zuletzt die Strapazen, die er an diesem Tage überstanden hatte, forderten ihren Preis. Er begann müde zu werden und streckte sich auf dem breiten, frisch bezogenen Bett aus; eigentlich nur um ein wenig auszuruhen.
Natürlich schlief er trotzdem fast auf der Stelle ein. Als er erwachte, war die Sonne untergegangen. Im Zimmer war es trotzdem nicht dunkel, denn jemand hatte mehr als ein Dutzend Kerzen aufgestellt, die ein beruhigendes gelbliches Licht verströmten. Im Kamin brannte ein Feuer, dessen Wärme der durch die offen stehenden Fenster hereinströmenden Kühle des Abends Einhalt gebot, und vermutlich dieselben dienstbaren Geister, die auch die Kerzen aufgestellt und das Feuer im Kamin entfacht hatten, hatten auf einem Schemel neben seinem Bett auch frische Kleider bereit gelegt.
Kim lächelte dankbar und zog sich um, ging aber nicht aus dem Zimmer um Themistokles oder Gorg zu suchen, sondern trat nach kurzem Zögern an eines der Fenster heran. Er hatte fast Angst vor dem, was er sehen würde.
Dabei war es im ersten Moment eigentlich so gut wie nichts. Das Zimmer lag in einem Turm, der zwar nicht ganz so hoch war wie der des Zauberers, ihm aber trotzdem einen guten Ausblick über den Palast und auch einen großen Teil der Stadt gewährte. Früher hatte er oft hier gestanden und auf das bunte Treiben im Burghof und in den Straßen Gorywynns hinabgesehen. Nun gab es nicht mehr viel, was er betrachten konnte. Im Burghof unter ihm brannten zwar zahlreiche Fackeln, aber dieses Licht schien die Dunkelheit auf der anderen Seite der trotzigen Mauern nur noch zu betonen.
Die Stadt lag wie ausgestorben da. Hier und da brannte zwar ein Licht, flackerte ein Feuer oder leuchtete das helle Rechteck eines Fensters, aber es waren nur sehr wenige, verlorene Inseln aus Licht in dem erstarrten Ozean aus Schwärze, zu dem Gorywynn nach Einbruch der Nacht geworden war.
Der Anblick stimmte ihn traurig. Gorywynn war noch nicht tot wie viele Städte und Dörfer, durch die er auf dem Weg hierher gekommen war, aber es lag im Sterben.
Und er wusste nicht einmal, warum.
Die Tür ging auf und Gorg steckte den Kopf herein. »Oh, du bist wach«, sagte er. »Das ist gut. Da ist Besuch für dich.«
»Besuch?«, wiederholte Kim überrascht. »Für mich?«
Gorg zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls nehme ich es an«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zu uns wollen.«
»Sie? Wer?«
»Das solltest du dir besser selbst ansehen«, antwortete Gorg ausweichend. »Davon abgesehen will Themistokles mit dir reden.«
Kim verstand immer weniger, wovon der Riese überhaupt sprach, folgte ihm aber gehorsam. Gorg führte ihn durch einen schier endlos langen Gang und eine Treppe hinab, bis sie in eine Art kleinen Saal gelangten. Er war von Kerzen und einem halben Dutzend Kohlebecken behaglich erleuchtet und auf einer langen Tafel in seiner Mitte war das verschwenderischste Festmahl aufgebaut, das Kim jemals gesehen hatte. Themistokles saß am Kopfende dieser Tafel und redete mit einem Bediensteten. Auf der anderen Seite des Saales standen vier Männer in den farbenprächtigen Uniformen der Palastwache, die ihre Speere drohend auf eine kleinwüchsige, fellbedeckte Gestalt mit langen Affenarmen und Glubschaugen richtete und auch auf den viel kleineren, achtbeinigen Pelzball, der neben ihr stand.
»Diese beiden da behaupten, dass sie zu dir gehören«, begrüßte ihn Themistokles. »Ist das wahr?«
»So könnte man es nennen«, antwortete Kim. Er wunderte sich ein bisschen über sich selbst - aber er fühlte eine große Erleichterung, seine beiden treuen Weggefährten wieder zu sehen, noch dazu unversehrt. »Wir sind einen Teil des Weges zusammen gereist.«