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»Den Rand der Welt«, sagte Gorg.

Kim blinzelte. »Wie?«

»Er ist über den Rand der Welt gefallen«, sagte Sturm ganz leise. »Wie gesagt: Ich war ... unvorsichtig.«

»Du wusstest es nicht«, sagte Gorg. Er beugte sich vor und langte nach einer Schale, in der ein halbes Dutzend gesalzener Fische lagen. Er war jedoch nicht schnell genug. Die Spinne hatte den Fisch im selben Moment entdeckt wie er, schoss mit einem Satz vor und griff mit vier Beinen danach. Gorg grunzte ärgerlich und nahm die zweite Hand zu Hilfe um sich den Fisch zu angeln, aber offensichtlich hatte er die Kräfte der Spinne unterschätzt. Sie stemmte sich mit den beiden hinteren Beinpaaren gegen den Tisch und zerrte und zog mit den beiden anderen. Keiner der beiden war jedoch stark genug um sich seine Beute zu sichern.

»Das spielt doch gar keine Rolle!«, sagte Sturm. »Die Kugel ist weg und es ist meine Schuld. Es wäre nie passiert, hätte ich nicht damit herumgespielt!«

»Hätte! Wäre! Wenn!« Gorg stand nun auf und spannte seine gewaltigen Muskeln an um der Spinne den Fisch zu entreißen, schaffte es aber nicht. Der ganze Tisch begann unter dem Gerangel zu zittern. »Es ist aber nun einmal passiert und es wird nicht besser, wenn du dir Vorwürfe machst!«

»Warum habt ihr denn nie gesucht?«, wunderte sich Kim.

»Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Sturm. »Die Kugel ist fort! Sie ist über den Rand der Welt gefallen. Niemand kann dorthin gehen und sie wieder holen!«

»Ich schon«, sagte Kim. »Ich war schon einmal dort.«

Sturm blickte ihn zweifelnd an, aber Kim nickte heftig und deutete auf Gorg, der mittlerweile nur noch mit einer Hand an dem Fisch zerrte. Die andere benutze er um sich an der Tischkante abzustützen und auf diese Weise mehr Kraft zu entwickeln. Die Spinne ihrerseits hatte ein halbes Dutzend Fäden um die Tischkante gewickelt, mit denen sie sich sicherte.

»Gorg kann es dir bestätigen«, fuhr er fort. »Ich war schon einmal am Rand der Welt.«

»Das war etwas anderes«, sagte Sturm traurig. »Themistokles hat mir davon erzählt. Es gibt die Regenbogenbrücke nicht mehr, so wenig wie Burg Weltende und die Klamm der Seelen. Der Weg, den du gegangen bist, existiert schon lange nicht mehr. Es war ein magischer Weg. Und die Magie ...«

»... ist fast erloschen«, führte Kim den Satz zu Ende. »Ich verstehe. Aber es muss doch einen anderen Weg geben.«

»Lass endlich los, du achtbeiniges Scheusal!«, keuchte Gorg. »Der Fisch gehört mir!«

»Wieso?«, keifte die Spinne. »Steht dein Name drauf?«

»Es gibt keinen anderen Weg«, sagte Sturm. »Glaube mir. Ich habe lange danach gesucht. Wenn ich ihn nicht finde, dann findet ihn niemand. Die Zauberkugel ist verloren.«

»Gibst du immer so schnell auf?«, fragte Kim.

»Nein«, antwortete Sturm. »Aber ich vergeude auch nicht meine Kräfte, indem ich das Unmögliche versuche!«

»Und es würde auch nichts nutzen«, keuchte Gorg. Sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen und er hatte Mühe überhaupt zu reden. »Ob die magische Glaskugel nun hier ist oder sonst wo, ändert nichts an dem Krieg der Generationen.«

»Vielleicht doch«, sagte Kim. »Wäre Themistokles im Vollbesitz seiner Kräfte, könnte er ihn vielleicht beenden.«

»Ja, vielleicht«, piepste Twix. »Aber wer sagt dir denn, dass er das überhaupt will?«

Kim hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht abzuwarten, wer den Kampf um den Fisch gewann, sondern war in sein Zimmer gegangen. Nicht um zu schlafen. Er war viel zu aufgewühlt um auch nur ein Auge zuzubekommen und darüber hinaus auch nicht im Geringsten müde. Aber er brauchte einfach ein wenig Zeit für sich um zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken zu ordnen. Weder die Spinne noch der Pack folgten ihm, aber Twix blieb auf seiner Schulter sitzen. Die Elfe war jedoch ungewohnt still. Sie sagte nichts. Selbst das goldene Leuchten ihrer Flügel schien blasser geworden zu sein.

Es musste lange nach Mitternacht sein, als er wieder ans Fenster trat und auf die Stadt hinabsah. Viele der Lichter, die er vorhin noch gesehen hatte, waren nun erloschen. Gorywynn lag fast vollkommen dunkel unter ihm. Nirgendwo rührte sich etwas und er hörte so gut wie keinen Laut.

Aber das bedeutete nicht: gar keinen.

Kim hörte ein ganz sachtes, metallisches Scharren und dazu ein Geräusch, als glitte Stoff über etwas Hartes. Kim stützte sich auf die Fensterbank ab und beugte sich vor um einen Blick in den Hof hinab zu werfen. Irgendwo, sehr tief unter ihm, schien sich etwas zu bewegen, aber er konnte es nicht genau erkennen.

Er bat die Elfe loszufliegen und nach dem Rechten zu sehen. Twix summte gehorsam davon und kam nach wenigen Augenblicken zurück, behauptete aber nichts Außergewöhnliches entdeckt zu haben. Sie wirkte jedoch etwas ängstlich.

Kim hakte nicht noch einmal nach, sondern verließ das Zimmer und lief die lange Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Auf halber Strecke traf er Gorg. Der Riese sah müde aus und ein wenig benommen, als wäre er jäh aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden.

»Du hast es auch gehört«, begrüßte er Kim.

»Ja. Aber ich weiß nicht, was.«

»Ich auch nicht«, sagte Gorg. »Sehen wir nach. Bleib immer dicht hinter mir.«

Sie legten rasch die restliche Strecke zurück und erreichten die große, vollkommen leere Halle, wo sie wieder stehen blieben.

Hier waren die Geräusche deutlicher zu hören. Es war ein unheimliches Schleifen und Scharren, nicht sehr laut, aber auf eine schwer in Worte zu fassende Weise mächtig. Und es machte Kim Angst. Er konnte nicht sagen, warum, aber das Gefühl wurde mit jeder Sekunde stärker.

»Was ... ist das?«, fragte Gorg. Er hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt.

Kim zuckte mit den Schultern, aber diese Bewegung war nicht ganz echt. Er wusste die Antwort auf Gorgs Frage nicht, aber dieses unheimliche Gefühl, das ihn beschlichen hatte, war ihm auch nicht vollkommen fremd. Er hatte es schon einmal gefühlt: Die Anwesenheit von etwas Fremdem, etwas so unglaublich Altem und Anderem, dass ihn schon seine bloße Nähe erschauern ließ. Er wusste nur nicht mehr, wo er das gespürt hatte.

Noch langsamer gingen sie weiter. Das Geräusch kam von draußen und es wurde deutlicher, mit jedem Schritt, mit dem sie sich der Tür näherten. Mittlerweile war ein neuer, noch unheimlicherer Laut hinzugekommen, ein dumpfes Knirschen und Mahlen, das Kim zwar nicht richtig einordnen konnte, aus dem seine Fantasie aber das Geräusch machte, mit dem gewaltige Zähne Felsen und Glas zermalmen mochten.

Nur mit Mühe konnte er diese Vorstellung abschütteln. »Unsinn«, murmelte er.

Gorg blieb stehen und sah ihn fragend an, aber Kim schüttelte rasch den Kopf. »Nichts«, sagte er. »Ich hatte nur einen verrückten Gedanken.«

»Das sind manchmal die besten«, sagte Gorg.

Sie traten aus der Tür. Drinnen in der Halle hatten noch einige wenige Fackeln für dämmriges Licht gesorgt; hier draußen schlug die Dunkelheit wie eine erstickende Woge über ihnen zusammen. Im ersten Moment hatte Kim das Gefühl, kaum noch atmen zu können. Außerdem war er so gut wie blind.

Dann bemerkte er eine Bewegung, irgendwo links von sich auf der anderen Seite des Hofes.

»Was zum Teufel -?«, keuchte Gorg.

Kim bekam nun tatsächlich keine Luft mehr. Angst griff wie eine lähmende Klaue nach ihm, und obwohl er Gorg nicht genau sehen konnte, spürte er doch, dass es dem Riesen ganz genauso erging. Es war keine Furcht vor irgendeiner körperlichen Bedrohung, nicht das eisige Frösteln, das pure Todesangst oder der Anblick eines überlegenen Gegners auslöst, sondern etwas viel Schlimmeres: Angst. Nackte, reine Angst, die ihre Seelen erfüllte und ihre Gedanken und Glieder lähmte; ein Gefühl, das keinen Grund und keine Erklärung nötig hatte, sondern einfach da war, gewaltig und allumfassend.