Selbst der Riese war durch die plötzliche Sturmböe von den Füßen gerissen worden. Themistokles und er schlitterten hilflos über den Hof.
Die allergrößte Wucht des Sturmes aber traf das Ungeheuer. Der Sturm wuchs in Sekundenschnelle zu solcher Gewalt an, dass Kim kaum noch etwas sehen konnte. Die Kreatur schrie und tobte vor Wut, aber das Heulen des Orkans verschluckte jeden anderen Laut.
Eine Windhose bildete sich, begann sich schneller und schneller und immer schneller zu drehen und raste plötzlich im Zickzack auf das Ungeheuer zu.
Die Kreatur wurde regelrecht in den Boden gestampft. Die Windböe ergriff sie, wirbelte sie immer schneller herum und presste sie dabei mit unwiderstehlicher Gewalt in das Loch zurück, aus dem sie herausgekommen war. Nach nur wenigen Sekunden war alles vorbei. Der rasende Mini-Tornado verschwand in dem Tunnel, riss die Kreatur mit sich und entwickelte trotz allem noch genug Kraft, um die Ränder der Grube zum Einstürzen zu bringen.
Selbst als wieder Ruhe eingekehrt war, blieb Kim noch etliche Sekunden mit angehaltenem Atem liegen. Erst dann wagte er es, die Arme herunterzunehmen und aufzustehen. Sofort lief er zu Gorg und dem Zauberer hin.
Gorg hatte sich auf Hände und Knie erhoben und wirkte benommen. Sein Haupthaar und ein Teil seines Bartes waren angesengt und hatten sich gekräuselt und die Flammen hatten auch auf seiner Haut Spuren zurückgelassen. Trotzdem kümmerte er sich als Erstes um Themistokles.
Der Zauberer setzte sich umständlich auf und schüttelte benommen den Kopf, machte aber eine abwehrende Geste, als Gorg nach ihm greifen wollte.
»Bist du verletzt?«, fragte Kim besorgt.
»Ich ... glaube nicht«, murmelte Themistokles. »Nein ... mir fehlt nichts.«
»Was um alles in der Welt war das?«, fragte Gorg.
»Ich weiß es nicht«, sagte Themistokles. »Ich habe so etwas noch nie gesehen und auch nicht davon gehört. Diese Kraft! Diese unvorstellbare Wut. Ich war vollkommen hilflos! Wenn Sturm nicht den Tornado geschickt hätte ...«
Er sah mit einem Ruck auf. »Sturm!«
Auch Gorg und Kim fuhren erschrocken herum. In ihrer Erleichterung, dem Ungeheuer entkommen zu sein und vor allem Themistokles lebend und unverletzt zu sehen, hatten sie Sturm für den Moment einfach vergessen.
Der Junge lag auf der anderen Seite des Hofes, dort, wo Kim ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er war auf die Seite gefallen und regte sich nicht mehr. Sofort sprangen sie auf und eilten zu ihm.
Sturm hatte das Bewusstsein verloren. Sein Atem ging so flach, dass Kim im ersten Moment nicht einmal sicher war, dass er noch lebte. Nachdem Themistokles ihn jedoch flüchtig untersucht hatte, schüttelte er erleichtert den Kopf und sagte: »Er ist nicht verletzt. Ich glaube, er ist nur vollkommen erschöpft.« Er warf einen raschen, unsicheren Blick zu der Stelle zurück, an der das Loch gewesen war. »Ich wusste bisher nicht einmal, dass er zu so etwas fähig ist.«
»Ich bringe ihn in sein Zimmer«, erbot sich Gorg. Er nahm Sturm auf die Arme, ohne Themistokles' Antwort abzuwarten, und trug ihn zum Haus zurück. Themistokles und Kim sahen ihm besorgt nach.
»Bist du sicher, dass ihm nichts passieren wird?«, fragte Kim. »Ja«, antwortete Themistokles. »Er hat sich überanstrengt, das ist alles. Ein paar Stunden Schlaf und eine kräftige Mahlzeit und er ist wieder ganz der Alte.« Er seufzte. »Ich mache mir trotzdem Vorwürfe. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«
»Du konntest nicht wissen, dass das Ding ganz wild auf Schokolade ist«, sagte Kim. Es sollte ein Scherz sein, ein schwacher Versuch, die Situation zu entspannen, aber der Ausdruck von Schmerz in Themistokles' Augen wurde nur noch stärker.
»Ich wollte es gerade nicht sagen«, sagte er, »weil Gorg sich so große Sorgen um mich macht. Aber die Wahrheit ist, dass dieses Geschöpf nicht immun gegen meine Kräfte war.«
»Es hat sie aufgesaugt«, vermutete Kim.
»Du hast es gespürt«, sagte Themistokles düster. »Ja. Mit jedem magischen Hieb, den ich ihm versetzte, habe ich es nur stärker gemacht.«
»Aber das konntest du doch nicht wissen!«
»Es ist noch viel schlimmer, Kim«, sagte Themistokles. »Es hat mir nicht nur meine Kräfte entzogen! Ich habe es durch meine Zaubersprüche überhaupt erst angelockt! Ich hätte es spüren müssen. Ich glaube, ich habe es sogar gespürt. Aber ich war unfähig etwas zu tun.«
»Und was hättest du tun sollen?«, fragte Kim.
Darauf antwortete der Zauberer nicht mehr. Er sah Kim nur noch einen Moment lang traurig an. Dann drehte er sich herum und ging langsam und mit hängenden Schultern zum Palast zurück.
An Schlaf war in dieser Nacht natürlich nicht mehr zu denken. Kim folgte Gorg in Sturms Zimmer um sich um den Jungen zu kümmern, aber es gab nichts, was er für ihn tun konnte. Es war wohl so, wie Themistokles gesagt hatte: Sturm war nicht verletzt, sondern nur am Ende seiner Kräfte. Kim blieb mehr als eine Stunde an Sturms Bett sitzen, dann verließ er leise das Zimmer und machte sich auf die Suche nach Themistokles.
Er fand ihn in seiner Studienkammer im Turm, doch der alte Zauberer hatte keine Zeit für ihn. Er hatte sein albernes Nachthemd gegen sein gewohntes, weißes Gewand getauscht und zu Kims Erleichterung auch die Mütze und die närrischen Pantoffeln abgelegt. Auf seinem Tisch stapelten sich mindestens ein Dutzend Bücher, in denen er abwechselnd blätterte. Er schickte Kim nicht direkt fort, aber Kim spürte selbst, dass er störte, und zog sich nach wenigen Augenblicken wieder zurück.
Also ging er in sein Zimmer in der schwachen Hoffnung, wenigstens Twix oder die Spinne zu treffen. Von der Elfe zeigte sich jedoch keine Spur und die Spinne hatte sich hoch unter der Decke ein Netz gewoben und schlief.
Am Ende einer langen, zäh und endlos dahintröpfelnden Nacht ging draußen endlich wieder die Sonne auf und mit dem ersten grauen Schimmer des Tages trat Kim wieder ans Fenster und sah auf den Hof hinab. Das Loch, das die Kreatur in das Pflaster gerissen hatte, sah aus der Entfernung betrachtet regelrecht harmlos aus. Der künstliche Tornado, den Sturm ausgelöst hatte, hatte es nachhaltiger verschüttet, als wohl selbst ein Dutzend Bauarbeiter es in einer Woche gekonnt hätten. Kim vermutete, dass der Stollen auf ganzer Länge zusammengebrochen war. Was immer ihn gegraben hatte, würde auf diesem Wege nicht noch einmal hier hereinkommen.
Er wollte sich gerade wieder abwenden, als er eine Bewegung am Tor bemerkte. Eine einzelne, in dunkle Baumwollhosen und ein grobes Kettenhemd gekleidete Gestalt betrat den Hof. Der Mann trug einen gewaltigen Schild am linken Arm und ein noch gewaltigeres Schwert auf dem Rücken. Es war von kräftiger Statur und hatte einen schwarzen, kurz geschnittenen Bart.
Wolf.
Kim runzelte die Stirn. Der Krieger hatte ihnen Zeit bis zum nächsten Sonnenuntergang gegeben um sich zu entscheiden, und was immer Kim auch von ihm hielt, hatte er ihn bisher doch stets für einen Mann gehalten, der zu seinem Wort stand. Wieso also kam er jetzt hierher, mehr als zwölf Stunden vor Ablauf des Ultimatums?
Er drehte sich rasch herum und ging zur Tür und die Spinne, die bis jetzt perfekt die Schlafende gemimt hatte, ließ sich an einem Faden blitzschnell zu Boden gleiten und trippelte neben ihm her.
»Machst du einen Morgenspaziergang?«, erkundigte sich Kim. »Wenn du auf die Elfe wartest, muss ich dich enttäuschen. Ich habe sie seit gestern Nacht nicht mehr gesehen.«
»Sie wird schon kommen«, antwortete die Spinne. »Ich habe Zeit.«
Kim lächelte flüchtig. Es fiel ihm immer schwerer zu glauben, dass die Spinne Twix wirklich fressen würde. Aber es tat gut, nicht ganz allein, sondern einen Freund bei sich zu haben. Selbst wenn es nur eine streitlustige, ständig schlecht gelaunte Spinne war.
Sein Lächeln erlosch sofort, als er die Halle betrat und Wolf erblickte. Der Krieger war tatsächlich allein gekommen, stand aber nun schon wieder in einen heftigen Streit mit Gorg verwickelt da. Offensichtlich hatte der Riese Wolf hier unten in der Halle bereits erwartet.