Aber dann schüttelte er den Kopf. »Es tut mir Leid«, sagte er. Wolf war enttäuscht, aber er musste wohl spüren, wie wenig Sinn es hatte, weiter in ihn zu dringen. »Mir auch«, sagte er. »Ich wünsche dir und deinen Freunden viel Glück. Ich werde nun gehen und meine Männer sammeln.«
»Wozu?«, fragte Gorg misstrauisch.
»Kai hat eine Menge Truppen vor den Toren«, antwortete Wolf. »Truppen, die ihm nun an einer anderen Stelle fehlen. Vielleicht können wir einen Vorteil daraus ziehen.«
Er ging ohne ein weiteres Wort.
Erst als er schon lange außer Hörweite war, fragte Gorg leise: »Warum hast du sein Angebot abgelehnt?«
»Warum bist du noch hier?«, gab Kim zurück.
»Um Themistokles zu schützen«, antwortete Gorg. »Ich weiß nicht, was ich an deiner Stelle getan hätte. Vielleicht wäre ich mit ihm gegangen.«
Kim sagte nichts mehr dazu. Gorg hatte im Grunde nur laut ausgesprochen, was er selbst vor wenigen Augenblicken erst gedacht hatte. Und wären die Umstände nur ein wenig anders gewesen, dann hätte er sich vielleicht tatsächlich für Wolf entschieden.
Aber irgendetwas sagte ihm, dass dieser Kampf nicht mit Gewalt entschieden werden würde.
»Ich werde jetzt gehen und Themistokles berichten, was Wolf uns mitgeteilt hat«, sagte Gorg, wandte sich um, machte einen Schritt und blieb dann noch einmal stehen um in fast beiläufigem Ton hinzuzufügen: »Und komm erst gar nicht auf die Idee.«
»Auf was für eine Idee?«, fragte Kim.
Gorg zog eine Grimasse. »Gib dir keine Mühe«, sagte er. »Ich kenne dich zu gut, Kim. Ich weiß, dass du mit dem Gedanken spielst dich heimlich aus der Stadt zu schleichen um uns zu schützen. Aber dieses Opfer wäre sinnlos.«
»Ach?«, fragte Kim.
»Ich kenne Kai und sein Heer«, antwortete Gorg. »Es würde nichts nutzen, glaube mir. Sie würden uns trotzdem alle töten und Gorywynn niederbrennen, schon aus Wut, weil du ihnen entkommen bist.«
»Ich verstehe dich nicht, Gorg«, sagte Kim kopfschüttelnd. »Versteh mich nicht falsch. Ich würde nie so weit gehen wie Wolf-«
»- und mich einen Feigling nennen?«, fragte Gorg.
»Ich weiß, dass du das nicht bist«, sagte Kim erst. »Aber ich frage mich, was mit dir geschehen ist. Warum machen wir es nicht wie früher? Lass uns unsere alten Freunde zusammensuchen und zu diesem Magier der Zwei Berge gehen!«
»Unsere alten Freunde?«
»Kelhim und Rangarig«, antwortete Kim. »Und meinetwegen auch den Tatzelwurm und -«
»Kelhim ist tot«, unterbrach ihn Gorg.
»Tot?!«
Gorg machte eine besänftigende Geste. »Er starb eines ganz normalen Todes«, sagte er. »Und er wurde sehr alt für einen Bären. Und Rangarig wurde seit einem Menschenalter von niemandem mehr gesehen. Niemand weiß, ob er noch lebt und wenn ja, wo.« Er seufzte. »Die Dinge ändern sich, Kim. Sieh mich an. Auch ich bin alt. Für einen Riesen bin ich sogar gebrechlich, auch wenn du es vielleicht nicht glaubst. Und ich muss hier bleiben um Themistokles zu beschützen.«
»Du willst einfach so aufgeben«, sagte Kim fassungslos.
»Keineswegs«, antwortete Gorg. »Aber wir können nicht einfach losrennen. Themistokles wird eine Lösung finden, da bin ich sicher.«
»Und wenn nicht er, dann Kai«, grollte Kim. »Allzu viel Zeit bleibt ihm aber dafür nicht mehr.«
»Mach dir keine Sorgen um ihn«, antwortete Gorg. »Kais Heer mag uns überlegen sein, aber ich denke, ich habe noch die eine oder andere Überraschung für ihn. Viele haben es versucht, aber Gorywynn wurde noch nie erobert.«
»Irgendwann ist immer das erste Mal«, sagte Kim.
»Möglicherweise«, antwortete Gorg achselzuckend. »Wer weiß ... vielleicht haben die anderen ja Recht und wir sind es diesmal, die sich irren. Irgendwann verliert man auch zum ersten Mal, weißt du?«
Wenn Gorg erwartet hatte, dass Kim ihm zu Themistokles folgte, dann sah er sich getäuscht. Kim war viel zu erregt um jetzt mit dem Zauberer zu reden - und sei es nur, weil er tief in sich die nagende Angst verspürte, dass Themistokles und Gorg vielleicht Recht haben könnten und ihn möglicherweise sogar davon überzeugen würden.
Er wollte nicht zugeben, dass diesmal vielleicht alles ganz anders sein konnte. Märchenmond war niemals eine ungefährliche Welt gewesen, aber den Gefahren, die ihnen hier drohten, hatte er immer auf die eine oder andere Weise begegnen können. Diesmal gab es nichts, wogegen er kämpfen konnte, denn beide Seiten waren zugleich im Recht wie Unrecht und es gab auch nichts, wohin er gehen und Hilfe holen konnte, denn alle Wege, die aus Märchenmond herausführten, waren verschlossen.
Wahrscheinlich gab es jetzt nur noch einen, der ihm helfen konnte.
Wenn er es wollte.
Er ging in das Zimmer, in dem Sturm schlief, zögerte noch einen letzten Moment und berührte ihn dann vorsichtig an der Schulter um ihn aufzuwecken.
Sturm erwachte schon bei der ersten flüchtigen Berührung. Seine Augen flogen mit einem Ruck auf und Kim fühlte sich von einem Windstoß gepackt, der wie aus dem Nichts plötzlich da war, und wurde mit solcher Wucht gegen die Wand geworfen, dass ihm der Schädel dröhnte.
»Oh«, sagte Sturm. »Das tut mir Leid. Entschuldige.«
»Schon gut«, murmelte Kim benommen. »Ich sollte mir angewöhnen dich nicht zu erschrecken. Wie fühlst du dich?«
»Ein wenig erschöpft«, antwortete Sturm. Seinem Aussehen nach war das glatt gelogen.
»Du hast uns alle gerettet«, sagte Kim. »Na ja - wenigstens Themistokles, Gorg und mich.«
»Halb so wild«, antwortete Sturm. »Ich schätze, das Ding hätte mich auch nicht verschont.« Er schauderte sichtbar. »Was war das für ein Geschöpf?«
Kim hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es, nicht einmal Themistokles. Irgendein Ungeheuer.«
»Hauptsache, es ist weg«, sagte Sturm. Er schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Seine Bewegungen waren unsicher und fahrig und verrieten mehr von seinem wirklichen Zustand, als ihm wahrscheinlich klar war.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Kim leise.
»Hilfe?« Sturm zog eine Grimasse. »Im Prinzip gerne. Komm in einer Woche wieder oder besser in zwei. Ich bin froh, wenn ich aus eigener Kraft stehen kann. Ich bin vollkommen erschöpft.«
»Wir haben keine zwei Wochen«, sagte Kim ernst. »Wir haben nicht einmal zwei Tage.«
Er erzählte Sturm mit knappen Worten von Wolfs Besuch und dem anschließenden Gespräch mit Gorg. Sturm hörte schweigend zu und machte ein sehr besorgtes Gesicht.
»Das ist übel«, sagte er. »Aber was erwartest du jetzt von mir? Dass ich einen kleinen Wirbelsturm heraufbeschwöre und Kais Armee in alle Winde zerstreue?« Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Und ich würde es auch nicht tun, selbst wenn ich es könnte. Es könnten Menschen dabei zu Schaden kommen.«
»So wie gestern?«
»Das war etwas anderes«, behauptete Sturm. »Es war nur ein bisschen Wind. Niemand wurde verletzt. Um eine ganze Armee zu verjagen, wäre mehr nötig. Aber wie gesagt: Ich kann es auch gar nicht.«
»Und ich wollte es auch gar nicht«, sagte Kim.
»Was willst du dann?«
»Die Zauberkugel«, antwortete Kim. »Die Kugel, in die Themistokles seine Magie gebannt hat. Wir müssen sie wieder finden.«
Sturms Gesicht verdüsterte sich noch weiter. »Das ist unmöglich«, sagte er. »Bist du gekommen um mich daran zu erinnern, wessen Schuld das alles hier ist? Es ist dir gelungen.«
»Nein, Sturm«, sagte Kim. »Niemand will dir Vorwürfe machen! Was würde es denn auch nutzen? Ich möchte nur, dass du mir zeigst, wo es passiert ist. Vielleicht finden wir ja doch eine Möglichkeit ihn zurückzuholen.«
»Nein«, sagte Sturm. »Ganz davon abgesehen, dass wir Gorywynn dazu verlassen müssten. Der Weg ist viel zu weit. Weißt du, wo dieses Ende der Welt ist?«