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»Nein«, antwortete Kim ehrlich.

»Weit jenseits des Landes Morgon«, sagte Sturm. »Du würdest Wochen brauchen, selbst mit dem schnellsten Pferd - und ohne dass die ganze Welt hinter dir her wäre.«

»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Kim. »Aber wir sollten es zumindest versuchen.«

Sturm stand mit einem Ruck auf und trat ans Fenster.

Kim spürte einen Kloß im Hals. Er war nicht gekommen um Sturm zu verletzen, sondern um ihn um Hilfe zu bitten.

»Es war meine letzte Chance«, sagte Sturm leise und ohne sich zu ihm herumzudrehen. »Es war nicht der erste Fehler, den ich gemacht habe, weißt du?«

»Wie meinst du das?«

Sturm lachte bitter. »Ich bin ein Versager«, sagte er. »Eine vollkommene Niete! So meine ich das!«

Kim verstand kein Wort, aber er sagte nichts, sondern fasste sich in Geduld, bis Sturm von sich aus weitersprach.

»Ich bin ... noch kein richtiger Sturm«, sagte er leise. »Vielleicht werde ich es auch nicht. Meine Brüder und Schwestern lachen über mich. Was immer ich anfange, es geht schief. Soll ich einen lauen Frühlingswind erzeugen, wird ein Sturm daraus, der Bäume entwurzelt und Felder verwüstet. Wird ein Sturm gebraucht, so wird es eine sanfte Brise, und brauchen die Menschen Wind um über das Meer zu segeln, so verschlingt ein Unwetter ihre Schiffe. Ich wurde hierher geschickt, damit Themistokles mich unterweist und mir beibringt meine Kräfte richtig zu beherrschen. Du hast ja gehört, was passiert ist.«

»Aber das ist doch nicht deine Schuld!«, sagte Kim.

»Wessen sonst?«, fragte Sturm bitter.

Kim sagte nichts mehr. Er war verwirrt, sowohl über das, was er gerade erfahren hatte, als auch über den unerwarteten Ernst in Sturms Stimme. Er hatte bisher weder genau gewusst, wer Sturm war, noch weshalb er hier war. Er hatte sich eine andere Erklärung erhofft.

Er traf Themistokles an diesem Morgen nicht wieder.

Er hatte zwei- oder dreimal versucht zu ihm vorzudringen, war aber immer abgewiesen worden. Vor der Tür zu Themistokles' Studierzimmer standen zwei Männer der Palastwache, die ihm zwar sehr freundlich, aber auch vollkommen unnachgiebig den Zutritt verwehrten; der Zauberer habe zu studieren und hätte sich jede Störung aufs Schärfste verboten.

Auch Gorg war für Stunden verschwunden. Kim sah ihn nur einmal in Begleitung zweier Bewaffneter über den Hof eilen, war aber nicht schnell genug um ihn einzuholen. Wahrscheinlich versuchte Gorg die Verteidigung des Palastes vorzubereiten. Zumindest Twix tauchte wieder auf: Als er von seinem Besuch bei Sturm zurückkehrte, saß die Elfe auf seinem Bett und beäugte misstrauisch das dreieckige Netz, das die Spinne in einen Winkel der Zimmerdecke gesponnen hatte. Kims Frage, wo sie die ganze Nacht gewesen sei, überhörte sie geflissentlich.

Gegen Mittag kam der Pack in sein Zimmer, knallte wortlos einen Beutel mit Nahrungsmitteln auf den Tisch und zog sich dann in die entfernteste Ecke des Raumes zurück. Kim war eigentlich nicht hungrig, öffnete den Beutel aber trotzdem. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er im Großen und Ganzen das Gleiche enthielt, was der Pack ihm die ganze Zeit über gebracht hatte: frisch gepflücktes Obst, ein paar Beeren und Wurzeln und einige schmackhafte Pilze.

»Das ist sonderbar«, murmelte er.

»Was?«, fragte Twix.

Kim biss in einen Apfel und deutete auf die übrigen Lebensmittel. »Das ist alles frisch«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, woher es kommt. In Gorywynn leben nur noch wenige Menschen. Ich glaube nicht, dass auf dem Markt noch viel frisches Obst angeboten wird. Er kann doch unmöglich aus der Stadt gegangen sein, nur um ein paar Beeren zu pflücken!«

»Zuzutrauen wäre es ihm«, spöttelte die Spinne von der Höhe ihres Netzes aus. »Es wäre ja auch wohl viel zu leicht, einfach in die Speisekammer hinunter zu gehen.«

»Du verstehst mich nicht«, sagte Kim. »Wenn der Pack die Beeren wirklich draußen im Wald gepflückt hat, dann gibt es einen Weg aus der Stadt!«

»Und wer hat je behauptet, dass es den nicht gibt?«, fragte die Spinne. »Immer vorausgesetzt, du kannst dich vollkommen lautlos bewegen, klettern wie ein Affe und dich von Ast zu Ast schwingen.«

Kim setzte zu einer Antwort an, biss aber vorher noch einmal in den Apfel. In der nächsten Sekunde spuckte er den Bissen in hohem Bogen aus und starrte erschrocken auf den fast kleinfingerdicken Wurm, der aus dem Apfel herauskroch.

»Ja, ja«, kicherte die Spinne. »Ein Wurm. Der zweitschlimmste Anblick, nachdem man in einen Apfel gebissen hat.«

»Und was ist der schlimmste?«, erkundigte sich Kim.

»Ein halber Wurm«, antwortete die Spinne.

Kim legte den angebissenen Apfel behutsam aus der Hand, wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab und wandte sich an die Elfe.

»Du musst mir einen Gefallen tun«, sagte er. »Wenn es einen Weg aus der Stadt heraus gibt, dann kannst du ihn finden. Du fällst nicht auf und du bist schnell genug um im Notfall jedem zu entkommen.«

»Na ja ...«, sagte die Spinne. »Wenn sie Hilfe hat...«

Twix funkelte zu ihr empor, enthielt sich aber jeden Kommentars. »Wozu?«, fragte sie nur.

»Ich will nicht weglaufen«, antwortete Kim. »Ich weiß, was passiert, wenn Kai und seine Krieger hier auftauchen. Aber vielleicht finden wir ja einen Weg, auf dem wir alle hier herauskommen.«

»Wie du meinst«, sagte Twix. Sie wirkte nicht überzeugt, schwang sich aber gehorsam in die Luft und flog in einem weiten Bogen auf das Fenster zu. In einem sehr weiten Bogen - weit genug um ganz dicht über dem Netz hinwegzugleiten und es dabei - natürlich rein zufällig - mit goldenem Staub zu besprühen. Die Spinne kreischte empört und versuchte einen Faden abzuschießen um sich irgendwo festzuklammern, aber es war zu spät. Mit hilflos ausgebreiteten Beinen schlitterte sie an der Wand hinunter und landete ziemlich unsanft auf dem Rücken.

Twix verschwand kichernd aus dem Fenster und auch der Pack begann in seiner Ecke schadenfroh zu schnattern. Die Spinne richtete sich mit einiger Mühe wieder auf und funkelte ihn an.

»Ich an deiner Stelle würde die Klappe nicht so weit aufreißen«, zischte sie. »An dir ist zwar nicht viel dran, aber ein kleiner Appetithappen zwischendurch ist schließlich auch nicht zu verachten.«

»Hört auf, ihr beiden«, sagte Kim müde. »Mir ist wirklich nicht nach Scherzen zumute.«

Er hatte mit einer patzigen Antwort gerechnet, aber zu seiner Überraschung schwiegen sowohl der Pack als auch die Spinne und blickten ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an.

Kim hatte keine Lust mehr zum Reden. Er ging wieder zum Tisch, untersuchte die übrigen Mitbringsel des Pack und aß weiter, nachdem er sicher war, keinen weiteren ungebetenen Gast zu haben. Die ersten Bissen weckten seinen Appetit erst richtig. Er aß den gesamten Inhalt des Beutels leer, hatte aber hinterher das Gefühl, hungriger als zuvor zu sein.

»Ich glaube, ich werde die Küche noch einmal inspizieren«, sagte er. »Kann ich euch beide allein lassen, ohne dass ihr euch gegenseitig abmurkst?«

Er bekam keine Antwort, aber die Spinne hatte sich bereits wieder herumgedreht und war auf dem Rückweg zur Wand; vermutlich um ein neues Netz zu bauen. Sie humpelte ein bisschen.

Kim verließ das Zimmer und lief die Treppe hinab in den Teil des Palastes, in dem sich die Küche, die Vorratskammern und die anderen Hauswirtschaftsräume befanden. Auch hier wirkten die großen Räume, in denen manchmal für die Bedürfnisse von tausend Gästen oder mehr gesorgt worden war, wie ausgestorben. Es dauerte fast zehn Minuten, bis er das erste Mal den Klang einer menschlichen Stimme hörte.

Er beschleunigte seine Schritte in die entsprechende Richtung, stürmte durch eine Tür und sah sich urplötzlich einem vielleicht zehnjährigen Jungen und einem etwas älteren blondhaarigen Mädchen gegenüber. Die beiden erschraken bei seinem Anblick so sehr, dass der Junge nahezu vom Stuhl fiel. Kim hatte alle Mühe ein Grinsen zu unterdrücken.