»Aber er muss irgendwo hier sein!«, beharrte Gorg. »Ich kann ihn fast fühlen! Dieser dumme Junge! Er hat ja nicht einmal eine Ahnung, was er anrichtet!«
»Vielleicht hat ihn ja einer der anderen Suchtrupps gefunden«, antwortete der Krieger. »Er kann nicht entkommen. Alle anderen Stadttore sind geschlossen.«
Gorg zögerte einige Augenblicke und als er schließlich nickte und sein Pferd herumdrehte, da konnte Kim aus seinem Versteck heraus deutlich sehen, wie schwer ihm die Bewegung fiel. Gorg hasste es, aufzugeben.
»Also gut«, knurrte er. »Zurück zum Palast!«
Die Reiter zogen ab, aber Kim blieb in seinem Versteck, bis der Hufschlag ihrer Pferde nicht mehr zu hören war. Und selbst dann schlich er auf Zehenspitzen vor und trat nur ganz behutsam aus seinem Versteck heraus. Er kannte Gorg gut genug um ihm zuzutrauen, dass er seinen Rückzug nur vorgetäuscht und einen Posten zurückgelassen hatte.
Aber der Platz war leer. Die Verfolger waren tatsächlich abgezogen.
Kim atmete hörbar auf. Seine Hände und Knie zitterten noch immer. Die Situation kam ihm irrwitzig vor. Er hatte sich gerade vor den Menschen versteckt, denen er auf der ganzen Welt am allermeisten vertrauen konnte!
Seine Zeit reichte gerade aus, dass sich das Zittern seiner Glieder legen konnte, da hörte er schon wieder Hufschlag. Diesmal kam er aus der erwarteten Richtung, vom Tor her. Kim drehte sich herum und sah etwas, was er erhofft, aber nicht wirklich erwartet hatte: Kai war tatsächlich allein gekommen. Er trabte langsam auf einem mächtigen weißen Schlachtross durch das offen stehende Tor und führte ein zweites, nicht minder prachtvolles Pferd am Zügel mit sich. Er trug noch immer die weiße Kleidung der Steppenreiter, dazu aber einen gewaltigen weißen Schild, auf dem zwei dunkelgrüne Dreiecke prangten: das Symbol des Magiers der Zwei Berge. An seinem Gürtel hing ein gewaltiges Schwert und über den Rücken hatte er eine Armbrust geschnallt. Der Junge sieht nicht mehr aus wie ein Junge, dachte Kim, sondern wie ein Krieger. Er fragte sich, was Kai nächste Woche, nächsten Monat oder spätestens nächstes Jahr tun würde, wenn er feststellte, dass er plötzlich zum Mann geworden war. Würde er die Seiten wechseln und in Wolfs Armee gegen seine ehemaligen Freunde kämpfen?
Kai kam langsam näher, viel langsamer, als nötig gewesen wäre. Sein Blick irrte unstet umher, tastete über jede Gasse und jede Tür, über jeden Schatten. Offensichtlich vermutete er einen Hinterhalt.
Kim löste langsam den Bogen von seiner Schulter, legte einen Pfeil auf die Sehne und dachte an Kais Herz. Der Pfeil zitterte ganz sacht und Kim senkte die Waffe, bis die Pfeilspitze auf den Boden wies.
»Du bist tatsächlich allein gekommen«, sagte Kai, nachdem er auf Hörweite herangekommen war und sein Pferd gezügelt hatte. Er deutete auf den Bogen in Kims Hand.
»Was soll das?«
»Wo ist Twix?«, fragte Kim an Stelle einer Antwort.
»Die Elfe? In unserem Lager. Sie wartet auf dich ... Ich frage dich noch einmaclass="underline" Was soll das?«
»Nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme«, antwortete Kim. »Du weißt, was das für eine Waffe ist?«
»Ein Zauberbogen«, sagte Kai ruhig. »Er passt zu dir.«
»Dann weißt du ja auch, dass der Pfeil dich auf jeden Fall treffen würde«, sagte Kim, »selbst wenn du mich vorher tötest.«
»Das habe ich nicht vor.« Kais Blick löste sich mit einiger Mühe von Turocks schwarzem Bogen und richtete sich auf Kims Gesicht. »Du wolltest mit mir reden. Ich bin hier. Jetzt rede. Ich habe nicht viel Zeit. Ich muss einen Angriff vorbereiten.«
»Genau darüber wollte ich mit dir sprechen«, sagte Kim. »Du wirst den Palast nicht angreifen.«
»Werde ich nicht?«, fragte Kai lauernd. »Wer sollte mich daran hindern?«
»Dein Wort«, antwortete Kim. »Ich mache dir einen Vorschlag, Kai: Ich werde dich begleiten. Ich werde widerstandslos mit dir gehen und dich zu deinem Herrn begleiten. Unter der Bedingung, dass dein Heer abzieht und ihr den Palast nicht angreift.«
»Ich glaube nicht, dass du in der Situation bist, Bedingungen zu stellen«, sagte Kai kühl. »Was sollte mich daran hindern, jetzt ja zu sagen und meinem Heer später trotzdem den Befehl zum Angriff zu geben?«
»Dein Wort«, antwortete Kim. Er machte eine knappe Bewegung mit dem Bogen. »Und das hier. Wenn du mich belügst, töte ich dich. Selbst wenn es mich auch das Leben kostet.«
Kai musterte ihn eine geraume Weile durchdringend. »Du meinst das ernst«, sagte er schließlich.
»Todernst«, bestätigte Kim. »Ich habe nichts zu verlieren.«
Wieder vergingen Sekunden, in denen Kai ihn einfach nur anstarrte. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass Kim mit ihm verhandeln wollte, sonst wäre er nicht allein gekommen und hätte wohl auch kein zweites Pferd mitgebracht. Womit er mit Sicherheit nicht gerechnet hatte, das war Kims Entschlossenheit.
»Du bist ein zäher Verhandlungspartner«, sagte er schließlich. Er machte eine Kopfbewegung auf das Pferd neben sich. »Steig auf.«
»Heißt das, du akzeptierst meine Bedingungen?«
»Sieht so aus«, sagte Kai. Er verdrehte die Augen, als Kim sich immer noch nicht rührte. »Also gut, wenn du auf diesen albernen Firlefanz bestehst: Ich gebe dir mein Wort, dass wir den Palast und deine närrischen Freunde nicht angreifen werden. Weder jetzt noch später. Es ist ohnehin nicht nötig.«
»Wieso?«
»Sie sind doch schon tot«, antwortete Kai abfällig. »Dieser närrische alte Magier und seine Freunde gehören schon der Vergangenheit an. Sie haben es nur noch nicht gemerkt.«
Die Worte trafen Kim wie ein Schlag ins Gesicht und viel mehr noch der Ton, in dem Kai sie ausgesprochen hatte. Aber er sagte nichts von alledem, was ihm auf der Zunge lag, sondern ging schweigend los und kletterte auf das Pferd. Kai sah ihm aufmerksam dabei zu, lenkte dann sein Pferd auf der Stelle herum und ritt zum Tor. Kim folgte ihm.
Als sie das Stadttor passierten, sah Kim, dass Kais Vertrauen doch nicht ganz so groß gewesen war, wie es bisher den Anschein gehabt hatte. Beiderseits des Tores waren mindestens ein Dutzend großer Leitern an die Mauer gelehnt worden, auf denen mit Bögen und Armbrüsten bewaffnete Krieger standen. Zweifellos hatten sie zwischen den Zinnen hindurch auf ihn gezielt. Hätte er auf Kai geschossen, so hätte er wahrscheinlich nicht einmal mehr lange genug gelebt um zu sehen, ob sein Pfeil traf.
Kai entgingen seine Blicke natürlich nicht. Er sagte auch weiter nichts, aber in seinen Augen blitzte es spöttisch auf.
Langsam näherten sie sich dem Heerlager. Kim erschrak trotz Twix' und Wolfs Warnung, als er sah, wie groß das Heer war, das der Magier der Zwei Berge aufgeboten hatte um seiner habhaft zu werden. Auf der Ebene vor Gorywynns Toren waren Tausende von Zelten aufgeschlagen worden.
Wusste Gorg, mit wie vielen Gegnern er es zu tun hatte? Wenn ja, dann verstand Kim seine Reaktion immer weniger. Selbst mit einem Bruchteil der Armee, die Kai bei sich hatte, hätte er den Palast im ersten Anlauf genommen!
»Deine Entscheidung war klug«, sagte Kai plötzlich. »Deine Freunde hätten ihr Leben vollkommen sinnlos weggeworfen, wie du siehst.« Er deutete auf den Bogen. »Den brauchst du jetzt nicht mehr.«
Kim überhörte den letzten Satz. »Was ist so wichtig an mir?«, fragte er.
»Woher soll ich das wissen?«, gab Kai achselzuckend zurück. »Ich führe meine Befehle aus, das ist alles.«
»Und das reicht dir?«, fragte Kim. »Du fragst dich nicht einmal, welchen Sinn diese Befehle haben?«
Kai seufzte. »Man hat mich vor dir gewarnt«, sagte er. »Anscheinend zu Recht. Ich werde mich nicht mit dir auf eine Diskussion einlassen ... und tu endlich diesen verdammten Bogen weg! Er macht mich nervös.«
»Später«, sagte Kim mit fester Stimme. »Sobald wir aufgebrochen sind.«
Kai zügelte mit einem Ruck sein Pferd. »Später?«, fragte er. »Wenn wir aufgebrochen sind? Was soll das heißen?«