»Sobald deine Krieger das Lager abgebaut haben und das Heer abzieht«, sagte Kim.
Kais Augen wurden groß. »Bist du verrückt? Das da ist eine Armee! Das größte Heer, das Märchenmond jemals gesehen hat! Glaubst du, wir können einfach in die Sättel steigen und losreiten? Es dauert Stunden, das Lager abzubauen, vielleicht die ganze Nacht!«
»Ein Grund mehr, keine Zeit zu verlieren«, sagte Kim. »Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich den Pfeil einfach loslasse. Aber ewig werde ich den Bogen nicht halten können. Meine Hand wird allmählich schon lahm.«
»Dann schieß doch!«, sagte Kai trotzig. »Was du verlangst, ist unmöglich!«
Womit er vermutlich Recht hat, dachte Kim. Niemand konnte ein Heer dieser Größe binnen weniger Augenblicke in Bewegung setzen. Wahrscheinlich würde es allein eine Stunde dauern, bis auch nur der letzte Krieger die entsprechenden Befehle bekommen hatte.
»Dann reiten wir allein«, sagte er. »Nur du und ich und eine kleine Gruppe deiner ... Krieger.«
»Du traust mir immer noch nicht«, stellte Kai beleidigt fest.
»Ich würde es ja gerne«, antwortete Kim. »Aber immer, wenn ich es versuche, tut mir mein Bein wieder weh!«
»Ich habe dich nicht belogen«, sagte Kai. »Unser Waffenstillstand galt, solange wir in den Katakomben waren. Ich habe mich daran gehalten.«
»Ich dachte, du wolltest nicht mit mir diskutieren.«
Kai starrte ihn finster an, aber dann strich sein Blick noch einmal mit deutlicher Nervosität über den Zauberbogen in Kims Hand und er gab seinem Pferd die Sporen.
Nebeneinander ritten sie in das Heerlager. Es war ein unheimliches Gefühl. Kim verspürte eine ganz handfeste Furcht beim Anblick all dieser Bewaffneten, die ja schließlich seine Feinde waren. Und es spielte auch keine Rolle, dass es nur eine Armee aus Kindern war. Allein ihre gewaltige Zahl würde jeden Widerstand einfach hinwegfegen und was ihnen vielleicht noch an Kraft und Erfahrung fehlte, das machten sie durch Entschlossenheit wieder wett, wie ein einziger Blick in ihre Gesichter bewies.
Aber Kim bemerkte auch etwas anderes: Mindestens so oft wie grimmige Entschlossenheit und Kampfeslust sah er auch dasselbe wie in den Augen der beiden Kinder heute Morgen. Bewunderung und Ehrfurcht. Er war auch für diese Kinder nicht irgendwer. Dass sie - seiner Meinung nach - kollektiv den Verstand verloren hatten, änderte nichts daran, dass sie sich an ihn erinnerten. Er war auch für sie eine lebende Legende. Der Retter der Welt. Der Held aus der Schlacht um Gorywynn. So bizarr ihm dieser Gedanke auch selbst vorkam: All diese Jungen und Mädchen waren nicht seine Feinde.
Vor einem unerwartet kleinen, schmucklosen Zelt in der Mitte des Heerlagers hielten sie an. Kai schwang sich aus dem Sattel, machte aber eine abwehrende Geste, als Kim ebenfalls absteigen wollte.
»Ich bin sofort zurück«, sagte er. »Ich muss nur noch ein paar Befehle erteilen. Schließlich hast du es ja eilig.«
»So sehr nun auch wieder nicht«, sagte Kim freundlich. »Aber meine Hand schläft allmählich ein.«
Kai spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, sagte aber nichts, sondern drehte sich auf dem Absatz herum und lief zu seinem Zelt.
»Und vergiss Twix nicht!«, rief Kim ihm noch nach. »Wie ich sie kenne, legt sie keinen großen Wert auf deine Gastfreundschaft!«
Er musste tatsächlich nicht lange warten, bis Kai zurückkam. Nach kaum zwei Minuten tauchte der junge Steppenreiter wieder auf und schwang sich wortlos in seinen Sattel.
»Twix«, erinnerte Kim.
Kai starrte ihn finster an, griff an seine Seite und reichte Kim einen kleinen Lederbeutel, in dem es kräftig zappelte. Kim ergriff ihn ungeschickt mit der linken Hand, zog die Schnur mit den Zähnen auf und Twix flatterte schimpfend heraus und besprühte Kai mit ihrem goldenen Staub.
»Ungehobelter Flegel!«, keifte sie. »Weißt du, was er mit mir vorhatte? Soll ich dir sagen, was sie mit mir tun wollten?!«
»Nein«, sagte Kim. »Ich kann es mir ohnehin denken.« Er ließ den Beutel fallen, griff mit der frei gewordenen Hand nach dem Zügel und warf Kai einen auffordernden Blick zu.
Sie ritten los und verfielen bald in einen raschen Trab. Je weiter sie kamen, desto mehr Reiter schlossen sich ihnen an. Viele hielten nur eine Weile mit ihnen Schritt, sodass Kai ihnen weitere Befehle und Anweisungen geben konnte, aber ihre Gruppe wuchs doch immer weiter an. Als sie das Heerlager zur Gänze durchquert hatten und sich dem Hügel im Westen Gorywynns näherten, war ihre Zahl auf mindestens hundert angewachsen; und dazu kam noch eine große Anzahl Packpferde.
»Wie lange willst du dieses alberne Spielchen noch treiben?«, fragte Kai nach einer Weile. »Dieser Bogen macht mich ziemlich nervös!«
»Bis wir die Hügel erreicht haben«, antwortete Kim.
»Du hast mein Wort, verdammt noch mal!«, knurrte Kai. »Das sollte dir genügen!«
Im Grunde tat es das sogar. Kim hatte in Wahrheit ein ganz anderes Problem: Der Pfeil zitterte noch immer ganz sacht in seiner Hand. Er wusste einfach nicht, was passieren würde, wenn er losließ oder versuchte ihn wieder in den Köcher zu stecken. Und seine Hand begann tatsächlich lahm zu werden. Allzu lange konnte er den Pfeil nicht mehr halten. Aber bis zu den Hügeln war es auch nicht mehr sehr weit.
Die Katastrophe geschah, kurz nachdem die Sonne untergegangen war. Die Pferde sprengten weiter in scharfem Tempo dahin, aber das Licht wurde immer schwächer und plötzlich stolperte Kims Pferd. Es war nur ein kleiner Fehltritt, nach dem es seinen gewohnten Takt fast sofort wieder fand.
Aber die plötzliche Erschütterung reichte um Kims Hand von der Bogensehne abrutschen zu lassen.
Kim schrie entsetzt auf, ließ den Bogen endgültig los und versuchte mit beiden Händen nach dem Pfeil zu greifen. Er bekam ihn tatsächlich zu fassen, doch der Pfeil glitt einfach zwischen seinen Fingern hindurch, jagte im spitzen Winkel dem Boden entgegen und beschrieb dann einen engen Bogen. Auch Kai schrie auf, duckte sich und versuchte seinen Schild in die Höhe zu reißen. Kim wusste, wie sinnlos es war. Kais Bewegung war viel zu langsam, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätte der verzauberte Pfeil einfach einen Bogen um den Schild geschlagen um sein Ziel zu treffen.
Das genaue Gegenteil war der Fall.
Vor Kims ungläubig aufgerissenen Augen wich der Pfeil abermals von seinem Kurs ab und bohrte sich mit solcher Wucht genau zwischen die beiden grünen Dreiecke auf Kais Schild, dass der Junge beinahe aus dem Sattel geschleudert wurde. Im allerletzten Moment klammerte er sich am Sattelknauf fest, griff mit einem Fluch nach dem Pfeil, der in seinem Schild zitterte, und brach ihn wütend entzwei.
»Du verdammter Narr!«, brüllte er. »Ist das deine Art, dein Wort zu halten?«
»Es ... tut mir Leid«, stammelte Kim. »Ehrlich! Ich wollte das nicht! Es war ein Unfall!«
»Der mich fast das Leben gekostet hätte!«, ereiferte sich Kai. Wütend riss er auch noch die Pfeilspitze aus dem Schild und schleuderte sie zu Boden.
»Jetzt hätte ich jeden Grund, unsere Abmachung für null und nichtig zu erklären und Gorywynn dem Erdboden gleichmachen zulassen!«
»Bitte, tu das nicht!«, flehte Kim. »Ich wollte dich nicht angreifen! Wenn du jemanden für meinen Fehler büßen lassen willst, dann mich!«
Kai funkelte ihn an. »Keine Angst, du Dummkopf!«, sagte er hämisch. »Ich werde deinen Freunden nichts tun. Ich glaube dir nämlich.«
Er gab einem seiner Begleiter einen Wink. Der Junge sprang aus seinem Sattel, hob den Bogen auf, den Kim fallen gelassen hatte, und reichte ihn Kai.
Der junge Steppenreiter befestigte den Bogen an seinem Sattel und zog eine Grimasse. »Den behalte ich lieber«, grollte er. »Bevor du dich am Ende noch ganz aus Versehen selbst erschießt!«
Erst lange nach Mitternacht hielten sie an und schlugen ein provisorisches Lager auf. Kim rechnete damit, gefesselt oder wenigstens scharf bewacht zu werden, doch weder das eine noch andere war der Fall. Während Kais jugendliche Krieger damit beschäftigt waren, das Lager zu errichten und die Wachen zu organisieren, schien niemand auch nur Notiz von ihm zu nehmen.