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Da er das Gefühl hatte, nur im Weg zu stehen, ging er zum westlichen Ende des Lagers zurück. Sie hatten auf der Kuppe eines Hügels angehalten, sodass er den Weg, den sie bisher zurückgelegt hatten, zur Gänze überblicken konnte. Gorywynn lag wie ein Berg aus schwarzen Diamanten unter ihm, auf dessen Flanken sich das Sternenlicht brach. In der Stadt brannte kein einziges Licht, aber die Ebene davor war hell erleuchtet. Zehntausende Leuchtkäfer krochen in einem verwirrenden Hin und Her durcheinander.

»Wie du siehst, habe ich mein Wort gehalten«, sagte Kai hinter ihm. »Das Heer zieht ab. Deinen Freunden wurde kein Haar gekrümmt.«

»Wohin ziehen sie?«, fragte Kim ohne Kai direkt anzusehen. Er hatte nicht das Gefühl, dass sich der Großteil der Lichter in ihre Richtung bewegte.

»Einige werden uns folgen, aber die meisten werden ... anderenorts gebraucht.«

»Anderenorts«, wiederholte Kim. Er nickte. »Ich verstehe. Du meinst, sie müssen noch die eine oder andere Stadt niederbrennen, ein Dorf plündern, ein paar Familien auslöschen ...«

»Ich werde diese Diskussion mit dir nicht führen«, sagte Kai. »Habe ich das nicht schon einmal gesagt?«

»Wie bequem«, sagte Kim spöttisch. »Von wem hast du diese Ausrede? Von deinem geheimnisvollen Meister?«

»Wir haben diesen Krieg nicht angefangen!«, protestierte Kai. »Wir haben lange genug still gehalten! Viel zu lange! Aber irgendwann war es genug und wir haben angefangen uns zu wehren! Tun die Leute das da, wo du herkommst, vielleicht nicht?«

Kim seufzte. Langsam drehte er sich zu Kai herum und sah ihn an. Der junge Steppenreiter hielt seinem Blick problemlos stand, aber das Funkeln in seinen Augen war mehr Trotz als etwas anderes.

»Glaubst du denn, ich weiß nicht, wovon du sprichst?«, fragte Kim. »Ich bin nicht älter als du, vergiss das nicht. Auch ich habe Eltern mit Regeln und Vorstellungen, die mir nicht immer gefallen. Es ist bei uns nicht anders als bei euch.«

»Dann seid ihr Schwächlinge, die es nicht besser verdienen!«, antwortete Kai verächtlich. »Wir waren lange genug wie ihr! Aber wir sind es leid uns immer nur anzuhören, was gut für uns ist und was nicht, wie wir zu reden haben, wie wir uns zu kleiden haben und was wir zu tun und zu lassen haben! Diese Welt gehört uns genauso wie den Alten - noch viel mehr sogar, denn wenn es sie schon lange nicht mehr gibt, dann werden wir immer noch hier sein! Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir zu denken haben!«

»Und du glaubst, zu den Waffen zu greifen und alles Alte zu zerschlagen wäre eine Lösung?«, fragte Kim. Er sprach absichtlich ein wenig lauter, als nötig gewesen wäre. Etliche von Kais Anhängern befanden sich in ihrer Nähe, und obwohl keiner von ihnen auch nur in ihre Richtung sah, war Kim doch sicher, dass sie ihrem Gespräch mit gespitzten Ohren lauschten.

»Wir haben es versucht!«, beharrte Kai. »Immer und immer wieder. Aber sie wollten nicht hören. Am Ende hatten wir keine andere Wahl.«

»Es gibt immer eine andere Wahl als Gewalt und Tod«, sagte Kim.

Kai machte ein abfälliges Geräusch. »Und von wem hast du diese Antwort?«, fragte er. Er drehte sich auf dem Absatz herum und stapfte davon.

Sie brachen nicht gleich bei Sonnenaufgang auf, wie Kim erwartet hatte, sondern erst nach zwei oder drei Stunden. Der Teil des Heeres, der sie begleiten würde, war erst lange nach Mitternacht zu ihnen gestoßen und Kai wollte Mensch und Tier offenbar noch eine kleine Rast gönnen, bevor sie weiterzogen.

Ihre Zahl war auf annähernd tausend angewachsen und im Laufe des Tages stießen noch weitere Reiter und Packpferde zu ihnen. Was an diesem Nachmittag und auch noch bis spät in die Nacht nach Osten zog, das war für sich genommen schon eine Armee, beeindruckend genug, dass es niemand wagte, sich ihr in den Weg zu stellen. Sie stießen weder an diesem noch am darauf folgenden Tag auf Widerstand.

Kai hielt sich fast die ganze Zeit in Kims Nähe auf und er schien ihm ihren kleinen Streit in der ersten Nacht auch nicht übel zu nehmen. Sie sprachen viel miteinander. Kim erfuhr einiges über Kais Leben in Caivallon und er erzählte umgekehrt von seinen früheren Abenteuern. Nur wenn Kim versuchte die Rede auf den Ausbruch des Krieges oder den Magier der Zwei Berge zu bringen, wurde Kai ungewöhnlich schweigsam und wechselte abrupt das Thema.

Am zweiten Tag wechselten sie die Richtung.

Sie folgten nun nicht mehr dem Fluss, sondern ritten direkt nach Osten; beinahe genau in die Richtung zurück, aus der Kim gekommen war. Er hoffte, dass sie nicht den ganzen Weg bis zu dem Punkt zurückreiten würden, an dem er zum ersten Mal auf Kai getroffen war. Sie würden eine Woche dafür brauchen, wenn nicht länger.

Auch in der dritten Nacht wurde er viel mehr wie ein Gast als ein Gefangener behandelt. Er bekam ein eigenes Zelt zugewiesen und durfte sich innerhalb des Lagers frei bewegen. Als er versuchte das Tor in dem provisorisch aufgestellten Palisadenzaun zu durchschreiten, wurde ihm dies zwar höflich, aber mit Nachdruck verwehrt, aber das galt auch für alle anderen. Niemand durfte das Lager verlassen. Obwohl sie in den letzten Tagen auf keine lebende Seele gestoßen waren, verwandelten Kais Krieger das Lager jeden Abend in eine Festung.

Auf dem Weg zurück zu seinem Zelt begegnete ihm Kai. Er wirkte nervös, angespannter als sonst. Als Kim sich ihm näherte, war er in ein Gespräch mit zwei anderen Jungen vertieft, das er aber sofort unterbrach. Er schickte seine Gesprächspartner weg und wandte sich direkt an Kim.

»Du hast versucht das Lager zu verlassen.«

»Niemand hat mir gesagt, dass es verboten ist«, antwortete Kim. »Lässt du mich beobachten?«

»Hier passiert nicht viel, von dem ich nichts wüsste«, sagte Kai ausweichend. »Ich wäre ein schlechter General, wenn es anders wäre.«

»Ich dachte, ich wäre euer Gast, nicht euer Gefangener«, sagte er geradeheraus.

»Das bist du auch«, sagte Kai gelassen. »Und gerade deshalb sind wir für deine Sicherheit verantwortlich.«

»Lässt du deine Leute deshalb jeden Abend eine kleine Festung bauen?«, fragte Kim spöttisch. »Damit mir nichts passiert?«

»Unter anderem«, sagte Kai. »Ich würde dir nicht raten zu fliehen. Die Gegend ist gefährlich.«

»Für wen? Für mich oder für euch?«

»Wenn du auf Wolf und seine Männer anspielst, muss ich dich enttäuschen«, sagte Kai. »Sie würden es nicht wagen, uns anzugreifen. Und was deine Freunde aus Gorywynn angeht, so wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher, ob sie es wirklich wert waren, das Leben für sie zu riskieren.«

»Wieso?«, fragte Kim.

»Keiner von ihnen ist uns gefolgt«, antwortete Kai. »Das ist doch, womit du insgeheim gerechnet hast, oder? Ich muss dich enttäuschen. Sie sind alle noch in Gorywynn.«

»Woher... woher willst du das wissen?«, fragte Kim stockend. Tatsächlich hatte er insgeheim darauf gehofft, dass Gorg oder auch Themistokles ihnen folgen würden um ihn zu befreien.

»Ich weiß es eben«, sagte Kai. »Wie gesagt - es gibt nicht vieles, wovon ich nichts weiß.«

Er wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment kam ein junger Krieger herbeigeeilt und raunte ihm ein paar Worte zu, die Kim nicht verstand. Kais Gesicht blieb ausdruckslos, aber Kim spürte, dass ihm das, was er erfuhr, nicht besonders gefiel. Er nickte nur knapp und schickte den Jungen mit einer fast herrischen Handbewegung fort.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte Kim.

»Ja«, antwortete Kai. »Aber du solltest dich nicht so sehr darüber freuen.«

»Wieso?«

»Nichts«, sagte Kai. »Ich habe jetzt keine Zeit mehr. Geh in dein Zelt und versuche ein paar Stunden zu schlafen, wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns.«