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Er drehte sich so schnell herum, dass es fast einer Flucht gleichkam.

Twix, die wie üblich auf seiner Schulter saß, piepste: »Er hat Angst.«

Kim verdrehte sich fast den Hals um die Elfe anzusehen. »Angst?«

Twix nickte so heftig, dass sie fast von seiner Schulter fiel. »Alle hier haben Angst. Hast du das etwa noch nicht gemerkt?«

Das hatte Kim tatsächlich nicht. Natürlich war ihm die Anspannung aufgefallen, die über den jungen Kriegern lag, aber er hatte dieses Gefühl für normal gehalten. Es war nicht das erste Mal, dass er mit einem Heer ritt. Eine gewisse Anspannung und Nervosität gehörte einfach dazu, wenn so viele Menschen zusammen waren.

»Angst?«, fragte er noch einmal. »Aber wovor?«

»Das Land ist nicht gut«, antwortete Twix.

»Danke für diese wirklich erschöpfende Auskunft«, sagte Kim. »Und was genau soll das bedeuten?«

»Es ist tot«, antwortete Twix. »Wie der Wald, in dem du die toten Elfen gefunden hast. Nur schlimmer. Toter, sozusagen.« Kim blieb ernst. »Du meinst...«

»Keine Magie. Der Zauber ist gestorben.«

Kim blickte konzentriert in die Dunkelheit hinter dem Palisadenzaun. Ihm war, als bewege sich dort draußen etwas, das er weder sehen noch hören, aber dafür umso deutlicher fühlen konnte. Es war, als fühle er die Dunkelheit näher kriechen.

Und offensichtlich ging es nicht nur ihm so. Auch die jugendlichen Wächter, die hinter der provisorischen Palisade Aufstellung genommen hatten, blickten mit wachsender Nervosität in die Nacht hinaus. Ihre Bewegungen waren fahrig und es war nicht einer unter ihnen, der nicht angespannt oder verkrampft wirkte.

Kim spürte es eine Sekunde, bevor es geschah. Es war wie vor drei Tagen im Hof des Palastes, nur ungleich intensiver: Etwas kam. Schnell.

Die Dunkelheit explodierte regelrecht. Etwas Riesiges, Bleiches tauchte lautlos aus der Nacht auf, zerschmetterte die Palisade und schleuderte die jugendlichen Verteidiger in alle Richtungen. Ein Chor gellender Schreie wurde laut, aber nur für weniger als eine halbe Sekunde, dann wurde es von einem ungeheuerlichen Brüllen und Kreischen verschluckt, das die gigantische Kreatur ausstieß. Fürchterliche Klauen schnappten. Riesige starre Augen glotzten auf der Suche nach Beute. Zähne wie Messer blitzten in der Nacht.

Die Stämme der hastig errichteten Palisade zerbrachen wie Streichhölzer. Waren die Jungen und Mädchen des Kinderheers im ersten Moment noch durch den bloßen Anblick des Ungeheuers vor Schreck wie erstarrt gewesen, so setzte nun einen allgemeine panische Flucht ein.

Auch Kim wurde von der Menge mitgerissen, ob er wollte oder nicht. Er brauchte plötzlich all seine Kraft um nicht zu Boden geschleudert und womöglich zu Tode getrampelt zu werden. Trotzdem versuchte er das tobende Ungeheuer weiter im Auge zu behalten.

Es war zweifellos dieselbe Kreatur, die vor drei Tagen im Hof des Palastes aufgetaucht und Themistokles angegriffen hatte. Obwohl sie nun nur wenige Schritte vor ihm emporragte und zusätzlich vom Licht Dutzender Fackeln hell erleuchtet wurde, konnte er sie trotzdem nicht richtig erkennen. Kim hatte nur einen vagen Eindruck von etwas Gewaltigem, Bleichem, das viel zu viele Glieder, Stacheln und Scheren, Panzerplatten Klauen und Zähne hatte, aber etwas in ihm schien sich immer noch zu weigern, es richtig zu erkennen. Er hätte das Ungetüm nicht beschreiben können, nicht einmal jetzt, als er es direkt ansah.

Die Kreatur stampfte brüllend weiter in das Lager hinein. Sie hatte eine Bresche in die Palisade geschlagen, die breit genug war, ein halbes Dutzend Reiter nebeneinander hindurchzulassen. Unter ihren riesigen Füßen explodierten Lagerfeuer in Funkenschauern, Zelte wurden niedergetrampelt, von dem peitschenden Schwanz davongewirbelt oder gerieten in Brand, wenn sie von fliegenden Funken oder Holz getroffen wurden. Eine riesige Klaue zerschmetterte einen Teil der Pferdekoppel, woraufhin die Tiere, die beim Anblick des Ungeheuers ohnehin schon in Panik geraten waren, ausbrachen und das allgemeine Chaos noch vergrößerten. Obwohl seit dem Auftauchen des Ungeheuers erst wenige Augenblicke vergangen waren, befand sich praktisch das gesamte Heer in Panik und die Bestie hatte bereits eine Spur der Verwüstung durch das Lager gezogen. Kim wagte sich nicht die Anzahl der Opfer auszumalen, die der Angriff bereits gekostet hatte.

Nicht alle Jungen und Mädchen flohen allerdings vor dem Ungeheuer. Niemand wagte ihm nahe zu kommen, aber schon flogen die ersten Speere und Pfeile in seine Richtung. Ein gutes Dutzend älterer Jungen hatte sich in die Sättel geschwungen und sprengte mit angelegten Lanzen auf die Kreatur los.

Nicht ein Einziger vermochte die knochenweißen Panzerplatten zu durchdringen. Die Speerspitzen zerbrachen nutzlos an dem bleichen Bein, und die Reiter, die nicht schon durch den Anprall zu Boden gestürzt waren, wurden von einem wütenden Hieb aus den Sätteln gefegt. Die meisten richteten sich hastig auf und krochen oder humpelten davon, aber zwei oder drei blieben auch liegen und rührten sich nicht mehr.

Kim erkannte entsetzt, dass auch Kai unter ihnen war.

Der junge Steppenreiter war bei Bewusstsein, aber benommen. Er versuchte sich auf Hände und Knie hochzustemmen, fiel zurück und versuchte es erneut, aber er war viel zu langsam und schien Schwierigkeiten zu haben, sich zu orientieren. Das Ungeheuer raste heran. Unter seinen Schritten bebte die Erde. Die fürchterlichen Fänge blitzten. Kai hatte nicht die geringste Chance ihm zu entkommen.

Kim rannte los ohne zu überlegen. Während alles um ihn herum vor dem heranstürmenden Ungeheuer floh, setzte er sich ohne zu zögern in Bewegung und rannte los, direkt auf Kai zu - und damit auch auf die Kreatur!

Twix, die noch immer auf seiner Schulter hockte, kreischte entsetzt und jagte auf schwingenden Flügeln senkrecht nach oben und Kim fegte mit wahren Riesensätzen direkt auf Kai los. Im buchstäblich allerletzten Moment erreichte er ihn, griff im Rennen nach seiner Schulter und riss ihn einfach in die Höhe. Kai war noch immer benommen und begriff augenscheinlich gar nicht so recht, wie ihm geschah. Trotzdem reagierte er ganz instinktiv richtig: Er sprang in die Höhe, machte einen ungeschickten, stolpernden Schritt um sein Gleichgewicht wieder zu finden und fiel wie durch ein Wunder in einen immer schneller werdenden gleichmäßigen Trab.

Kim drehte im Laufen den Kopf und wünschte sich im selben Moment es nicht getan zu haben. Das Ungeheuer raste heran, so schnell wie ein Güterzug und nicht viel kleiner. Die gewaltigen Kieferzangen schnappten gierig und Kim begriff voller Entsetzen, dass das Monster auf seinen zahlreichen Beinen schneller lief als Kai und er! Ihr Vorsprung wuchs nicht. Er wurde kleiner!

Er versuchte noch schneller zu rennen und kam prompt aus dem Tritt, als Kai, der immer noch halb benommen war, hinter ihm ins Stolpern kam. Verzweifelt kämpfte er um sein Gleichgewicht, ruderte wild mit dem freien Arm und kippte in einer hilflosen Bewegung nach vorne.

Als er wieder halbwegs Herr seiner Sinne war, war das Ungeheuer über ihnen.

Kai kreischte vor Entsetzten, als ein riesiges Maul nach ihm schnappte und sich wie eine stählerne Zange um seine Hüften schloss. Mühelos riss ihn das Ungetüm in die Höhe. Kais Schreie wurden zu einem Quietschen und dann zu einem erstickten Keuchen, als der Druck der Scheren so weit zunahm, dass er keine Luft mehr bekam. Noch eine Sekunde und die Kreatur würde ihn einfach zerquetschen!

Kim sprang auf die Füße, sah sich verzweifelt nach irgendeiner Waffe um und griff schließlich nach Kais eigenem Schwert, dessen Griff aus seinem Gürtel ragte. Mit beiden Händen zerrte er die Waffe heraus, schwang sie hoch über den Kopf und schlug mit aller Gewalt zu.

Funken sprühten, als die Klinge gegen den stahlharten Panzer des Ungeheuers prallte. Kim taumelte zurück. Das Schwert vibrierte so heftig in seinen Händen, dass er Mühe hatte es festzuhalten. Er hatte das Gefühl, gegen massives Eisen geschlagen zu haben, nicht gegen etwas Lebendiges.