»Eine Koralle«, murmelte sie. »Was die Elai wohl davon halten würden?«
»Sie werden es nicht erfahren«, sagte Imenja entschieden. »Es ist ein Geheimnis, vergiss das nicht.«
»Natürlich.« Reivan ließ den Anhänger wieder los.
Imenja trommelte abermals mit den Fingern auf die Reling. »Also, welche Bücher hast du mitgenommen? Es sind nicht nur Bücher der Denker, oder?«
Reivan verdrehte die Augen und trat einen Schritt von der Reling zurück. »Komm mit. Ich werde sie dir zeigen.«
Mirar lachte in sich hinein.
Wir sind ein wenig selbstgefällig heute, wie?, fragte Leiard.
Das Versprechen, das ich Auraya abgenommen habe, löst all unsere Probleme, erwiderte Mirar. Ich brauche das Land nicht zu verlassen. Ich kann hierbleiben und weiter den Siyee helfen. Sie wird ein Versprechen, das sie im Namen der Götter gegeben hat, nicht brechen.
Ach nein? Ich dachte, ich wäre der Vertrauensselige von uns beiden.
Das bist du auch. Du hättest sie nicht gebeten, dieses Versprechen zu geben.
Weil ich weiß, dass sie ein Versprechen brechen würde, sollten die Götter es ihr befehlen.
Ein Versprechen, das sie in ihrem Namen gegeben hat?
Wer würde davon erfahren? Es hat keine Zeugen gegeben.
Auraya würde es wissen. Die Götter würden ihren Respekt verlieren.
Und du wärst trotzdem tot.
Das wird nur dann geschehen, wenn ich ihnen einen Grund liefere, mich zu töten. Solange die Siyee krank sind, droht mir keine Gefahr. Sobald diese Seuche abgeklungen ist, werde ich abermals versuchen zu verschwinden. Und wenn Auraya sich an einem anderen Ort aufhält, stehen meine Chancen auf Erfolg recht gut.
Bei jedem Schritt Mirars sickerte Matsch um seine Füße, und der Schlamm wurde immer tiefer. Die Luft stank nach Verwesung. Er stieß einen leisen Fluch aus, der Tyve galt. Zweifellos hatte der Junge ihn in diese Schlucht geschickt, weil sie zum Nordwalddorf führte oder leichter begehbar war als das Gebiet darum herum. Bedauerlicherweise hatte Tyve den unter den dichten Pflanzen verborgenen sumpfigen Boden nicht gesehen.
Mirar tat noch einen Schritt, dann rutschte er plötzlich aus und musste sich an einem Baumstamm festhalten, um nicht in den Morast hinabzusinken. Er saß mitten in einer flachen Schlammpfütze.
Er fluchte abermals und rappelte sich wieder auf. Vor sich sah er einen endlosen Wald, dessen dünne Baumstämme sich wie Grasbüschel im Wind wiegten. Der Boden dazwischen glitzerte.
Du musst umkehren, sagte Leiard.
Mirar seufzte. Das Gras trieb auf dem Schlamm und ließ den Boden fester aussehen, als er in Wirklichkeit war. Schlamm hatte eine Kruste auf seiner Hose gebildet und tropfte vom unteren Saum seines Traumweberwamses.
Wenn Auraya mich jetzt sehen könnte…, dachte er.
… dann würde sie sich auf deine Kosten königlich amüsieren, vollendete Leiard den Satz.
Ja. Er musste lächeln. Dann drehte er sich kopfschüttelnd um und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war.
Du magst sie, bemerkte Leiard.
Ich habe nie behauptet, dass ich sie nicht mag.
Nein, aber diesmal weißt du selbst, dass es so ist. Du bist ohne meinen Einfluss zu diesem Schluss gekommen. Du weißt, dass dies deine Gefühle sind, nicht meine.
Mirar dachte einen Moment lang nach und nickte schließlich.
Ja. Ich verstehe, was du meinst.
Der Weg wurde steiler. Mirar dachte an den mühseligen Abstieg in die Schlucht hinunter und an die Anstrengung, die ihn auf der anderen Seite wahrscheinlich erwarten würde, und stöhnte.
Auraya hat ihr Ziel vermutlich bereits erreicht, ging es ihm durch den Kopf.
Vor seinem inneren Auge stieg die Erinnerung an Auraya auf, wie sie von der Plattform sprang und in einem Winkel davonschoss, den die Siyee unmöglich hätten nachahmen können. Er hatte sie beobachtet, bis sie hinter den Baumwipfeln verschwunden war, und sich gefragt, warum diese besondere Gabe ihn noch immer erstaunen konnte.
Du bewunderst sie, stellte Leiard fest. Das ist der Grund.
Mirar zuckte die Achseln. Ja.
Es war nicht nur die Mühelosigkeit, mit der sie ihre einzigartige Gabe nutzte, sondern die Art, mit der sie alles in Angriff nahm, was getan werden musste. Tüchtig, aber nicht eitel, was ihre Fähigkeiten betraf. Tatkräftig, aber nicht ohne Mitgefühl.
Sie ist nicht unattraktiv, fügte er hinzu. Aber andererseits würden die Götter natürlich keine hässlichen Menschen zu ihren Stellvertretern erwählen.
Doch ihre Schönheit war keineswegs augenfällig. Manche Leute würden sagen, ihre Gesichtszüge seien zu scharf.
Leute, die wohlgerundete, vollbusige Frauen bevorzugen, stimmte Leiard ihm zu.
Allerdings war sie auch keineswegs knochig. Sie hatte durchaus weibliche Kurven.
Dann sind ihre Kurven dir also aufgefallen?, fragte Leiard.
Ja. Mirar schnaubte. Ich bin ein Mann; natürlich fallen mir weibliche Rundungen auf. Bist du eifersüchtig?
Wie könnte ich? Ich bin du.
Ein Frösteln überlief ihn. Er blickte auf und zwang sich, den steilen Felshang und die Pflanzen vor sich zu betrachten. Alles war nass und rutschig. Er suchte nach günstigen Stellen zum Klettern und zog sich langsam hinauf.
Wenn du ich bist, dann liebst du Auraya nicht, dachte Mirar plötzlich.
Ah, aber ich liebe sie.
Er schüttelte den Kopf. Dann liebe ich sie also ebenfalls?
Ja.
Der Aufstieg war so, als bewege man sich auf Händen und Knien an einer halb eingestürzten Mauer empor. Mirar schüttelte erneut den Kopf. Er war ärgerlich, sowohl wegen der Notwendigkeit, den Felsen hinaufzuklettern, als auch über Leiards lächerliche Bemerkungen.
Warum verspüre ich dann keine Liebe?
Weil du es nicht zulässt. Du hast deine Gefühle vergraben.
Ach wirklich? Du hast gut reden. Ich könnte den Rest meines Lebens damit verbringen, nach Gefühlen zu suchen, die ich nicht habe, und du könntest jedes Mal, wenn ich sie nicht finde, dieselbe Erklärung benutzen. Du wirst sagen, ich müsse nur ein wenig tiefer schauen. Nur ein wenig gründlicher suchen.
Aber du hast nicht nach deinen Gefühlen gesucht, wandte Leiard ein. Als Traumweber besitzt du die Fähigkeit, dein Unterbewusstes zu erkunden, aber auch das hast du nicht getan. Du hast Angst vor den Konsequenzen. Außerdem, was würde es ändern, wenn ich recht hätte? Du kannst sie ohnehin nicht haben.
Wenn du recht hast, würde mir eine Erkundung meiner Gefühle nur Schmerz bereiten. Warum sollte ich das riskieren?
Weil du mich niemals loswerden wirst, bevor du es nicht getan hast.
Mirar hielt inne. Er befand sich jetzt unmittelbar unter dem Gipfel. Ich sollte mich auf das Klettern konzentrieren, dachte er.
Stattdessen schloss er die Augen und verlangsamte seine Atmung. Er sandte seinen Geist in eine Traumtrance, die er nur langsam und widerstrebend betrat. Er zwang sich, an Auraya zu denken. Ein Strom von Erinnerungen ergoss sich in seinen Geist. Auraya, die heilte. Auraya, die flog. Auraya, die redete, diskutierte, lachte. Während er den Aufstieg fortsetzte, sah er die Vergangenheit, sowohl die fernere wie auch die jüngere. Er erinnerte sich an ihre Gespräche über einen Frieden zwischen Traumwebern und Zirklern und verspürte Respekt vor ihr. Er rief sich die komischen Situationen ins Gedächtnis, da sie beide mit Unfug gespielt hatten, und er verspürte Zuneigung zu ihr. Er stellte sie sich mächtig und stark vor und verspürte Ehrfurcht und Stolz. Er sah sie fliegen und… erinnerte sich an einen Verdacht, den diese Fähigkeit einmal in ihm geweckt hatte. Diese Überlegung lenkte ihn beinahe von seinem Ziel ab, aber er zwang sich, den Gedanken beiseitezudrängen. Wenn er dies richtig machen wollte, durfte er sich nur die Erinnerung an jene Augenblicke geteilter Nähe gestatten, wie zum Beispiel die Erfahrung von Intimität, von Freude und beiderseitiger Entdeckung, von tieferen Empfindungen, von einem Gefühl der Zugehörigkeit, von dem Wunsch, nirgendwo anders zu sein. Von Vertrauen.