Von Liebe.
Er stand jetzt auf dem Gipfel des Hangs, atemlos vor Erschöpfung und von dem gleichzeitig erschreckenden und berauschenden Begreifen der Wahrheit.
Ich verstehe. Emerahl hatte recht, und doch hatte sie ebenso unrecht. Indem er zu Leiard geworden war, hatte er keine neuen Eigenschaften für sich selbst erschaffen. Nein, er hatte lediglich jene Regungen ausgeschlossen, von denen er glaubte, dass sie für andere am deutlichsten zu erkennen sein würden. Indem er das getan hatte, hatte er andere Gefühle freigelassen, Gefühle, die er jahrelang beiseitegedrängt hatte. Leiard ist ich. Ich bin Leiard. Er ist das, wozu ich geworden bin, als ich jene Teile meines Selbst unterdrückte, die einst Gefühle bargen, die ich für gefährlich hielt. Gefühle wie Liebe.
Gefühle, denen er zu misstrauen gelernt hatte. Die Liebe hatte ihm – einem Unsterblichen in einer Welt Sterblicher – stets nur endlosen Schmerz gebracht. Indem er zu Leiard geworden war, hatte er sich wieder in die Lage gesetzt zu lieben.
Ich bin Leiard. Leiard ist ich. Er presste seine Hände auf die Wangen. Ich liebe Auraya.
Die Ironie entlockte ihm ein bitteres Lachen. Jahrhunderte zuvor hatte er eine harte Mauer um sein Herz errichtet, um zu verhindern, dass er sich abermals in eine sterbliche Frau verliebte, die dazu verurteilt war zu sterben. Jetzt hatte er sich in eine Unsterbliche verliebt. In eine außerordentliche, schöne, intelligente Zauberin mit erstaunlichen Gaben, die seine Liebe einmal erwidert hatte.
»Aber sie ist eine verfluchte Hohepriesterin der Götter!«, schrie er.
Der Klang seiner Stimme riss ihn aus der Trance heraus, zurück in seine gegenwärtige Umgebung. Er sog scharf die Luft ein.
Du hast gesagt, dass es schmerzlich werden würde, bemerkte er zu Leiard.
Es kam keine Antwort. Vielleicht spielte Leiard ihm einen kleinen Streich. Er wartete noch ein Weilchen länger. Nichts.
Vielleicht ist er fort. Er schüttelte den Kopf. Nein. Er ist nicht fort, aber er ist nicht länger getrennt von mir, ebenso wenig wie ich getrennt von ihm bin.
Er sah sich um, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Er konnte nichts anderes tun, als weiterzugehen. Allein. Ein Stich des Bedauerns durchzuckte ihn. Irgendwie wusste er, dass er nichts mehr von Leiard hören würde.
Ich glaube, ich werde ihn vermissen. Ich kann Auraya nicht haben, und jetzt habe ich auch Leiard nicht mehr, mit dem ich reden könnte.
Der Gedanke daran hätte komisch sein sollen, doch stattdessen hinterließ er nur ein leeres, trauriges Gefühl in Mirar.
In den obersten Räumen des Weißen Turms ging Juran rastlos auf und ab. Wann immer er an den Fenstern vorbeikam, schaute er auf die Stadt hinunter. Er versuchte schon lange nicht mehr, sich im Geist ein Bild von Jarime zu bewahren, wie es zu Anfang ausgesehen hatte oder zu unterschiedlichen Zeiten während der vergangenen hundert Jahre. Er mochte körperlich nicht altern, aber sein Gedächtnis ließ ihn ebenso oft im Stich wie einen Sterblichen.
Und genau das war der Quell seines jetzigen Dilemmas.
Ich kann mich nicht erinnern, sagte er. Es ist zu lange her. Es ist so, als wollte ich versuchen, mich daran zu erinnern, wie die Dienstmagd meiner Eltern ausgesehen hat – und ich bin ihr wahrscheinlich tausend Mal öfter begegnet als Mirar zu dessen Lebzeiten. Warum willst du, dass ich mich daran erinnere, wie er aussah?
Es ist nur ein Verdacht. Entweder, Mirar ist noch am Leben, oder wir haben einen anderen Traumweber auf der Welt mit Fähigkeiten, die normalerweise Unsterblichen vorbehalten sind, antwortete Huan.
Jurans Herz setzte einen Schlag aus.
Ich bin mir nicht sicher, was schlimmer wäre. Dann erkennst du ihn also nicht?
Ich kann ihn nur mit den Augen eines anderen sehen. Deshalb erkenne ich ihn nicht, wenn der Betrachter es nicht tut. Du bist der einzige lebende Mensch, der ihn erkennen kann.
Du würdest es doch gewiss in seinem Geist lesen, wenn er Mirar wäre…?
Ich kann nicht in seine Gedanken sehen.
Juran blieb jäh stehen, und ein kalter Schauer überlief ihn.
Könnte dieser Traumweber Leiard sein?
Ja.
Leiard kann nicht Mirar sein! Ich habe in seinen Geist geblickt.
Einen Geist, der jetzt vollkommen verborgen ist. Wenn er das tun kann, könnte er zuvor auch imstande gewesen sein, Teile seines Geistes zu verbergen. Überdies kann er auf eine Art und Weise heilen, wie Unsterbliche es können, fügte Huan hinzu. Geradeso wie Mirar es konnte. Und es gibt noch etwas, das meinen Argwohn erregt.
Was denn?
Er hat Mirars Erinnerungen, und er hat zugegeben, dass er Mirars Stimme in seinem Geist hören könne.
Aber er kann nicht Mirar sein! Ich hätte ihn erkannt!
Das ist die Frage. Hundert Jahre sind eine lange Zeit. Wir wissen nichts über die Auswirkungen von Gedächtnisverlust bei den Sterblichen, die wir bisher geschaffen haben. Gibt es noch irgendwelche Porträts von Mirar?
Die meisten sind zerstört worden, doch vielleicht finden sich in den Archiven noch welche. Aber… wir haben seinen Leichnam gefunden.
Ihr habt einen Leichnam gefunden, der auf übelste Weise zerschmettert war. Vielleicht war es nicht Mirar.
Was ist, wenn Leiard nicht Mirar ist?
Er könnte ein neuer Wilder sein.
Und das macht ihn zu einer Gefahr?
Ja.
Ist Auraya in Sicherheit?
Chaia wacht über sie.
Juran trat ans Fenster und blickte abermals auf die Stadt hinab. Wenn Leiard ein neuer Wilder war und sie gezwungen waren, ihn zu töten, würde das ein schwerer Schlag für Auraya sein. Vielleicht würde sie nicht so sehr trauern, wie sie es zu der Zeit getan hätte, als sie noch in ihn verliebt gewesen war, aber es würde ihr schwerfallen, die Logik der Götter, nach der alle Wilden eine Gefahr darstellten, zu verstehen.
Wir haben nicht alle Wilden gefunden. Jene, die uns entkommen sind, haben uns keinen Ärger gemacht, sagte er.
Noch nicht. Vergiss nicht, Macht verdirbt die Menschen. Unsterbliche erkennen unsere Autorität nicht an. Sie glauben, ihre Seelen würden es niemals nötig haben, den Tod ihres Körpers zu überwinden, daher halten sie es nicht für notwendig, uns zu gehorchen. Sie sind mächtig und können großen Schaden anrichten. Es ist besser, wenn wir uns ihrer jetzt entledigen, statt zu warten, bis sie ihr volles Potenzial erreicht haben.
Was würden wir tun, wenn ein Zirkler unsterblich würde – ohne eure Hilfe?
Wenn der Betreffende uns ergeben wäre, würden wir ihn vielleicht am Leben lassen.