Während Leiard sie vorstellte, wurde Auraya langsam klar, warum diese Menschen hier waren. Sie hatte kranke Siyee erwartet, aber die Bewohner dieser Laube waren offenkundig zur Gänze wieder genesen. Leiard hatte die Krankheit in ihren Körpern getötet, aber sie durften nicht wieder mit anderen Siyee zusammenkommen, weil sie sich dann möglicherweise erneut angesteckt hätten. Sie konnten jedoch weiterhin häusliche Arbeiten verrichten und sogar kochen.
»Wie lange müssen sie hierbleiben?«, fragte sie ihn, als sie die Laube verließen.
»Ich habe ihnen erklärt, dass sie gehen dürfen, sobald kein Mitglied ihres Stammes mehr krank ist. Ihnen ist klar, dass eine abermalige Ansteckung auch dann noch nicht ganz auszuschließen sein wird, aber sie können sich nicht für immer von den anderen fernhalten.«
Auraya nickte. »Wissen sie, welches Glück sie haben? Alle Bewohner des Offenen Dorfes und die Mitglieder anderer Stämme, die sich in dergleichen Situation befinden, sterben.«
Leiard zuckte zusammen und sah ihr in die Augen. »Wie viele sind es bisher?«
»Etwa einer von fünfen.«
Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Dann entfernte er sich ein Stück von der Laube und ließ sich stirnrunzelnd auf einen Holzklotz am Rand des Waldes sinken. Auraya setzte sich neben ihn und betrachtete sein Profil. Sein Gesicht war nicht mehr so zerklüftet wie früher, stellte sie fest, obwohl er noch immer Lachfältchen um die Augen hatte. Die Farbe in seinem Haar war an manchen Stellen ausgewaschen, und der ursprüngliche dunkle Blondton schimmerte hindurch.
»Ich bin hergekommen, um festzustellen, ob dein Angebot noch gilt«, begann sie. »Die Herzzehre ist inzwischen überall. Der Tribut ist zu groß. Ich komme gerade vom Tempelberg. Die Siyee dort waren nicht gerade der entgegenkommendste aller Stämme, und ihr Höhlensystem ist zu klein für so viele Leute. Sie leben auf zu engem Raum zusammen… Keine günstigen Bedingungen, um die Ausbreitung einer Krankheit zu verhindern.«
Er lächelte schief. »Nein.« Er wandte für einen Moment den Blick ab, dann drehte er sich wieder zu ihr um und kniff die Augen zusammen. »Also verbieten die Götter es nicht länger?«
»Nein. Aber ich darf deine Gabe der Heilung nur mit Erlaubnis der Götter benutzen. Und nur in Zeiten großer Not, wie wir sie jetzt haben.«
Er nickte. »Ein Kompromiss.«
Sie sah ihn an, doch ihr fehlten die Worte. Während der vergangenen Monate hatte sie in ihrer Verzweiflung Experimente an sterbenden Siyee durchgeführt, doch ohne Erfolg. Sie konnte eine Krankheit nicht töten, die sie nicht ohne weiteres als ein eigenes Wesen innerhalb des Körpers, den sie zerstörte, zu erkennen und fassen vermochte.
»Kannst du heute Abend zurückkommen?«, fragte Leiard. »Tyve ist unterwegs, um Heilmittel zu besorgen, und während wir arbeiten, wird er sich um die Kranken kümmern müssen.«
»Natürlich. Wie lange wird es dauern?«
Er zuckte die Achseln. »Das hängt davon ab, ob du in der Lage bist, die Vorgehensweisen und die dahinter stehenden Konzepte aufzunehmen, und wie schnell du sie anzuwenden lernst. Vielleicht eine Stunde. Vielleicht mehrere Nächte.«
Auraya nickte. »Es gibt noch einen Stamm, nach dem ich sehen muss, aber ich kann bis heute Abend zurück sein.«
»Also werden wir dann beginnen. Denk daran, dass nur wenige die notwendigen Ideen begreifen können. Es ist keine Frage der magischen Stärke, sondern der geistigen Fähigkeit. Vielleicht hast du diese Fähigkeit nicht.«
»Ich kann es nur versuchen«, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. »Bisher hat es noch nie eine Gabe gegeben, die ich nicht erlernen konnte.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ist das so?«
»Ja.«
»Ich frage mich, was du tun wirst, wenn du scheiterst.«
»Versuchen, die Enttäuschung mit Würde zu tragen.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Das wird interessant zu beobachten sein.«
Sie sah ihm in die Augen. »Es könnte davon abhängen, ob du mich deswegen aufziehst oder nicht.«
»Glaubst du, ich würde das tun?«
»Ich weiß es nicht.«
Er lachte leise. »Ich werde danach trachten, mitfühlend zu sein.« Er erhob sich und blickte zu den Lauben hinüber. »Wenn du Zeit hast, werde ich dich der dritten Gruppe vorstellen. Sie befinden sich noch im Anfangsstadium der Krankheit. Unter ihnen ist eine Frau, die mehr über die medizinischen Pflanzen hier in der Gegend weiß als jeder andere, dem ich bisher begegnet bin. Ich denke, du wirst sie mögen.«
»Ja?«
»Vielleicht.«
»Dann lass uns gehen und es herausfinden.« Auraya stand lächelnd auf und folgte ihm zurück zu den Lauben.
Reivan lehnte an der Reling und betrachtete die fernen Berge von Si. Der Kapitän des Schiffes hatte sich während der letzten Tage in Sichtweite der Küste gehalten, eine Situation, die Reivan gleichzeitig beruhigend und ärgerlich fand. Es hatte etwas Verstörendes, so weit draußen auf See zu sein, dass man kein Land sehen konnte, aber der Anblick ebendieses Landes, trocken und still, war umso verlockender, wenn man keinen Fuß darauf setzen konnte, ohne zu riskieren, die Einheimischen gegen sich aufzubringen.
Sie rief sich ins Gedächtnis, welchen Empfang die Siyee den Götterdienern bereitet hatten, die nach Si gereist waren. Es war keine große Überraschung, dass das Himmelsvolk die Angebote von Frieden und Freundschaft, die die Pentadrianer brachten, nicht freundlich aufgenommen hatte.
Ich würde einen Besuch von Leuten, die meine Verbündeten angegriffen und viele Mitglieder meines Volkes getötet haben, auch nicht freundlich aufnehmen, ganz gleich, welche Absichten sie angeblich haben, dachte sie. Wenn die weiße Zauberin tatsächlich Gedanken lesen kann, muss sie herausgefunden haben, dass Friede nicht alles war, was die Götterdiener hier suchen sollten.
Reivan war geneigt, Nekaun zuzustimmen, dass der Versuch einer Bekehrung der Siyee sich für den Augenblick nicht lohnte. Wenn sie glaubten, sie seien von einem der zirklischen Götter erschaffen worden, würden sie die Vorstellung, dass ihr Schöpfer nicht real war und sie statt seiner den Fünf huldigen sollten, gewiss nicht mit Begeisterung aufnehmen.
Wie sind sie bloß auf diese Idee gekommen? Und wie sind sie wirklich entstanden?
Das Klatschen nackter Füße lenkte Reivans Aufmerksamkeit von ihren Überlegungen ab. Sie drehte sich um und sah sich Imi gegenüber, auf deren schwarzer Haut Wassertröpfchen glänzten, als sie auf sie zukam. Das Mädchen hatte während der vergangenen Monate ein wenig zugenommen. Es wirkte selbstbewusst und war nicht länger schwach, und auch das Schlingern des Schiffes brachte es nicht mehr so leicht aus dem Gleichgewicht.
»Sei mir gegrüßt, Reivan«, sagte Imi ernst.
»Sei mir gegrüßt, Prinzessin Imi«, erwiderte Reivan.
Das Mädchen hielt inne, dann grinste es. »Du hast mich bei meinem Titel genannt, weil ich gerade zu ernst war, nicht wahr?«
»Es ist dein Titel. Jetzt, da wir uns deiner Heimat nähern, sollte ich mich daran gewöhnen, dich damit anzusprechen.«
»Sind wir wirklich bald da?«, fragte Imi ängstlich. »Dann müssen wir schon weiter gekommen sein, als ich dachte.«
Reivan deutete mit dem Kopf auf die Berge. »Das ist Si. Ich rechne jetzt jederzeit damit, Siyee zu sehen. Wenn es so weit ist, können wir an Land gehen und sie bitten, uns… uns…«
»Den Weg zu weisen«, beendete Imi den Satz. Während der letzten Monate hatte Reivan genug von der Sprache der Elai gelernt, um Gespräche zu führen, aber ihr Wortschatz war noch immer begrenzt.
»Ja«, sagte Reivan. »Obwohl ich befürchte, dass die Siyee sich weigern werden, dir zu helfen, weil du mit uns hierhergekommen bist.«