Imenja drückte den Pfeil mit der Spitze ihres Schuhs aus dem Holz. »Was hältst du davon?«
»Ich denke, es ist eine Warnung«, erwiderte Reivan, deren Stimme ein wenig zitterte. »Und eine Erinnerung. Wir sind den Siyee nicht willkommen.«
»Ich bin deiner Meinung«, sagte Imenja. »Das Problem ist, wir müssen Imi an Land bringen, wenn sie herausfinden soll, wo ihre Heimat liegt. Wie wollen wir das bewerkstelligen?«
»Vielleicht könnten wir sie fragen.«
Imenja sah Reivan an und lächelte. »Natürlich. Wir werden uns heute Abend mit ihr beraten.«
35
Mirar setzte sich, stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn auf die Hände und dachte über Auraya nach.
Er hatte sie zwei Monate lang nicht gesehen, bis zu ihrem Besuch an diesem Morgen. Obwohl er gehofft hatte, dass sie einander im Kampf gegen die Herzzehre wieder begegnen würden, wusste er auch, dass ein solches Zusammentreffen nichts anderes als Gefahr mit sich bringen konnte. Es war nicht leicht, mit der aussichtslosen Vernarrtheit in sie zu leben, einem Gefühl, das in ihm erwachsen war, nachdem er Leiard als Teil seiner selbst akzeptiert hatte. Tatsächlich war es ausgesprochen lästig. Er sagte sich immer wieder, dass er darüber hinwegkommen müsse – je eher, desto besser. Doch als sie nach ihm gerufen hatte und in die Laube gekommen war, hatte sein Herz alle möglichen akrobatischen Sprünge vollführt, und er wusste, dass er abermals zwei Monate lang von ihr würde getrennt sein müssen, bevor er seine Gefühle wieder zur Gänze unter Kontrolle hatte.
Das Letzte, was er erwartet hatte, war ihre Bitte, ihn in seine magischen Heiltechniken einzuführen. Seit er den Nordflussstamm verlassen hatte, hatte Mirar die Götter viele Male dafür verflucht, dass sie es ihr nicht gestatteten, diese Fähigkeit zu erlernen. Während die Krankheit bei immer mehr Stämmen wütete, waren viele Siyee gestorben, die Auraya vielleicht hätte retten können.
Warum jetzt? fragte er sich. Warum haben sie ihre Meinung geändert?
Die Antwort lag auf der Hand. Die Krankheit war zu einer Seuche geworden. Vielleicht hatten die Siyee von seiner Heilkunst erfahren und fragten sich langsam, warum die Auserwählte der Götter nicht über die gleiche Fähigkeit verfügte.
Wenn das so ist, warum unterweisen die Götter sie dann nicht selbst?
Er hatte den ganzen Tag über diese Frage nachgegrübelt. Und er war immer wieder zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sie dazu offensichtlich nicht in der Lage waren. Sie waren Wesen aus Magie. Vielleicht konnten körperlose Wesen auch keinen Körper heilen, nicht einmal mit Hilfe eines bereitwilligen Menschen.
Wenn er Auraya diese Technik lehrte, ging er damit ein großes Risiko ein. Die Technik ähnelte den Methoden, die alle Wilden benutzten, um nicht zu altern. Auraya könnte das erkennen. Die Götter würden es gewiss erkennen.
Ich kann mich nicht dazu überwinden zu glauben, dass sie mir Schaden zufügen wird, wenn sie Verdacht schöpft, dass ich ein Unsterblicher bin. Ein Verdacht ist etwas anderes als Gewissheit, und sie würde nicht aufgrund eines bloßen Argwohns handeln. Sie hat mir versprochen, dass ich nicht zu Schaden kommen würde. Außerdem wird sie das Gefühl haben, in meiner Schuld zu stehen, nachdem ich ihr die Fähigkeit übermittelt habe, Leben zu retten. Vielleicht wird sie mir deshalb zumindest die Chance geben, Nordithania zu verlassen.
Als er Emerahl in Traumvernetzungen von seiner Begegnung mit Auraya erzählt hatte, hatte sie ihn gedrängt, die Siyee sich selbst zu überlassen und zu fliehen. Sie hatte ihm vorgeschlagen, nach Südithania zu gehen, wo Traumweber geduldet und sogar respektiert wurden. Als er ihr von seinem Angebot erzählt hatte, Auraya in seine Heilmethode einzuführen, hatte sie ihn einen Idioten genannt, auch wenn ihr kein Grund eingefallen war, warum er es nicht tun sollte – abgesehen von jenen Gründen, die er selbst bereits erwogen hatte.
Als er das Geräusch näher kommender Schritte hörte, blickte er auf. Zuerst sah er nur Dunkelheit, dann erschien Auraya aus der Finsternis wie ein Strahl Mondlicht, der Gestalt annahm. Ein Schaudern überlief Mirar. Der Saum ihres Zirks flatterte im Wind. Ihr offenes Haar wehte ihr ins Gesicht, und sie hob die Hand, um es sich hinters Ohr zu schieben.
Sieh nicht hin, befahl er sich. Wenn sie dich dabei ertappt, dass du sie anstarrst, könnte sie den Verdacht schöpfen, dass du noch immer betört von ihr bist.
Er holte tief Luft und erhob sich. »Sei mir gegrüßt, Auraya von den Weißen.«
Seine förmliche Anrede erheiterte sie offenkundig, denn eine ihrer Augenbrauen zuckte in die Höhe. »Sei mir gegrüßt, Traumweber Wilar.«
Er führte sie zu einer der beiden Decken, die er vor den Lauben auf den Boden gelegt hatte. Sie setzte sich und sah zu, wie er zu dem Zelt in der Mitte hinüberging. Darin saß Tyve neben einem Mann, der bewusstlos auf einer Bahre lag. Der Junge stand auf, beugte sich vor, um die Bahre am einen Ende hochzuheben, und half Mirar, sie nach draußen zu tragen.
Nachdem sie die Bahre zwischen Auraya und der anderen Decke auf den Boden gestellt hatten, kehrte Tyve in die Laube zurück. Mirar setzte sich.
Auraya beugte sich vor und legte dem Mann eine Hand auf die Stirn. Während sie den Zustand des Siyee abschätzte, trat ein geistesabwesender Ausdruck in ihre Augen. Das grimmige Zucken ihrer Lippen sagte Mirar, dass sie sehen konnte, welchen Schaden die Krankheit bereits angerichtet hatte. Einen Moment später blickte sie erwartungsvoll zu ihm auf.
»Was nun?«
»Ich könnte dir mein Vorgehen mit Worten erklären und dich dazu anleiten, die Gabe selbst zu entdecken, aber das würde Monate oder Jahre dauern, und keiner von uns hat Zeit zu erübrigen. Wir müssen uns in einer Vernetzung zusammenschließen.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Du sprichst von einer Gedankenvernetzung?«
»Nicht direkt. Wir werden einander an den Händen halten, aber im Gegensatz zu einer Gedankenvernetzung wird es nicht nötig sein, dass du deinen Geist öffnest. Es ist einer Traumvernetzung ähnlich, aber einfacher, da du dich dazu nicht in eine Trance oder in Halbschlaf sinken zu lassen brauchst. Die körperliche Berührung macht das überflüssig. Ich werde meine Anweisungen in deinen Geist projizieren. Du wirst mir auf die gleiche Art antworten. Bist du bereit, das zu tun?«
Ihre Mundwinkel zuckten, als sie über seine Frage nachdachte. Einen Moment später nickte sie leicht und streckte ihm die Hände hin. Er war nicht überrascht. Sie hatte sich schon früher an Traumvernetzungen beteiligt, obwohl sie verboten waren, und sie musste bereits zu dem Schluss gekommen sein, dass es sich für das, was er sie lehren wollte, durchaus lohnte, das Gesetz zu brechen.
Er griff nach ihren Händen und schloss die Augen, dann suchte er nach ihrer Präsenz. Er spürte bei ihr sowohl erwartungsvolle Spannung als auch Unsicherheit.
Auraya.
Leiard? Oder soll ich dich Wilar nennen?
Was immer dir lieber ist, antwortete er.
Ich denke nicht an dich als Wilar, daher werde ich dich Leiard nennen. Aber… du wirkst anders.
Ich habe mich verändert?
Ja und nein. Du scheinst mir mehr du selbst zu sein. Das klingt eigenartig, ich weiß, aber früher warst du… du warst dir deiner selbst so wenig sicher. Das ist jetzt anders.
Diese Feststellung stimmte ihn auf seltsame Weise froh.
Das ist wahr. Ich bin nicht mehr der Mann, der ich früher war.