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Heute Nacht würde sie wahrscheinlich trotz des Getränks wachliegen und an das Abenteuer denken, das ihr bevorstand. Würde sie am Ufer tatsächlich auf Siyee treffen? Würden sie ihr helfen?

Und was sollen wir tun, wenn sie nicht wissen, wo Borra liegt?

Als Juran die Tür zu seinem Quartier öffnete, stieg in Dyara sofort ein Gefühl von Gereiztheit auf. Obwohl er gelassen wirkte, standen Falten in seinem Gesicht, die nur dann erschienen, wenn irgendetwas ihn sehr aus dem Gleichgewicht brachte. Er trat beiseite und bedeutete ihr, vorauszugehen, sagte aber nichts. Rian und Mairae waren bereits da. Beide blickten ratlos drein.

Dyara setzte sich und wartete ab, während Juran langsam im Raum auf und ab ging und offensichtlich versuchte, sich zu sammeln. Sie kannte ihn besser als die anderen Weißen, aber das war nur natürlich. Sie arbeiteten jetzt seit sechsundsiebzig Jahren zusammen. Seine Erregung beunruhigte sie mehr als die anderen Weißen, und es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, nicht von ihm zu verlangen, sich zu beeilen und ihnen mitzuteilen, was ihm zu schaffen machte.

»Während der letzten Monate haben Huan und ich ein… ein gewisses Individuum beobachtet«, begann er. »Wir haben auf ein Zeichen dafür gewartet, dass unser Verdacht diesen Mann betreffend richtig oder falsch ist. Heute Abend hat sich unser Verdacht dann bestätigt.«

»Wer ist dieser Mann?«, fragte Dyara.

Juran blieb stehen und sah sie an. Dann holte er tief Luft, und seine Züge verhärteten sich. »Der Mann, den wir beobachtet haben, ist Mirar.«

Dyara sah Juran ungläubig an. Einige Herzschläge lang herrschte Schweigen im Raum.

»Er ist tot«, erklärte Rian.

Juran schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das ist er nicht. Ich weiß nicht, wie es möglich ist, aber es ist wahr.«

»Seid ihr euch dessen sicher?«, erkundigte sich Dyara.

»Jetzt sind wir es.«

»Aber du hast seinen Leichnam gefunden.«

»Wir haben einen Leichnam gefunden, der zerschmettert war. Er hatte die richtige Größe und Haarfarbe, aber sein Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Man hat ihn das eingestürzte Haus nicht verlassen sehen, und es gab viele Menschen, die den Vorfall beobachtet hatten.«

»Aber es gab keine Möglichkeit zu beweisen, dass es sich bei dem Toten tatsächlich um Mirar handelte«, beendete Dyara seine Ausführungen.

»Nein.«

Mairae beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Wie habt ihr erfahren, dass Mirar noch lebt?«

Juran seufzte und ging zu einem Stuhl hinüber. »Ich sollte wohl erklären, wie sich das Ganze zugetragen hat. Auraya hat Mirar vor einigen Monaten in Siyee entdeckt, obwohl sie natürlich nicht wusste, dass er es war. Er hat die Siyee behandelt und…«

»Weiß sie jetzt, wer er ist?«, unterbrach Dyara ihn erschrocken. »Droht ihr Gefahr?«

Juran lächelte. »Sie weiß es nicht, aber sie ist in Sicherheit. Chaia wacht über sie.«

»Sie glaubt, Mirar sei ein gewöhnlicher Traumweber«, vermutete Rian.

»Ja.«

Dyara nickte. Natürlich. Dann kam ihr eine Idee, und sie blickte zu Juran auf, der seine Aufmerksamkeit jedoch auf Rian gerichtet hatte.

»Sie hat ihn gebeten, sie seine Methode des Heilens zu lehren«, fuhr Juran fort. »Zuerst hat Huan es verboten, aber vor kurzem ist sie zu dem Schluss gelangt, dass es sich lohnen würde, das Risiko einzugehen, da wir auf diese Weise eine Bestätigung für unseren Verdacht erhalten würden. Er konnte aus Aurayas Gedanken nur wenige gefährliche Informationen entnehmen, während wir einiges aus seinen erfahren konnten.«

»Einen Moment mal«, unterbrach ihn Dyara. »Weder Auraya noch Huan können seine Gedanken lesen?«

Juran verzog das Gesicht. »So ist es. Sein Geist ist beschirmt.«

»Kein Wunder, dass ihr Verdacht geschöpft habt«, bemerkte Mairae.

»Trotzdem habt ihr sie ermutigt, von ihm zu lernen?«, hakte Dyara nach.

Juran sah ihr in die Augen und nickte. »Wir mussten wissen, ob ich mit meinem Verdacht richtiglag. Heute hat Mirar sich bereiterklärt, sie zu unterrichten. Huan und ich haben uns während seiner Unterweisung mit Auraya vernetzt… obwohl sie davon nichts wusste.«

Mairae sog scharf die Luft ein. »Warum habt ihr ihr nicht erzählt, was ihr vorhattet?«

»Um die Gabe der Heilung zu erlernen, musste sie sich mit Mirar vernetzen. Hätte sie einen Verdacht gehabt, wer er in Wirklichkeit ist, oder gewusst, dass Huan und ich zusehen, hätte Mirar vielleicht davon erfahren.«

»Wenn er das von ihr hätte erfahren können, was kann er dann sonst herausgefunden haben?«, fragte Rian leise.

»Nichts«, versicherte ihm Juran. »Wir waren darauf gefasst, die Vernetzung abbrechen zu müssen, aber es war nicht notwendig. Sie hat ihren Geist gut abgeschirmt. Was Huan und ich jedoch von seinem Geist gesehen haben…« Er schüttelte den Kopf. »Während Auraya sich auf den Unterricht konzentrierte, konnten Huan und ich in Mirars Gedanken schauen. An einer Stelle, als Auraya abgelenkt war, hat er sich sogar gefragt, was sie wohl tun würde, wenn sie erführe, dass er in Wirklichkeit Mirar ist.«

Dyara schwirrte der Kopf von unbeantworteten Fragen. Wie hat Mirar überlebt? Wird Juran ihn noch einmal töten müssen? Oder werden die Götter ihm Barmherzigkeit erweisen und mich oder Rian damit beauftragen, es zu tun? Oder Auraya, da sie bereits in Si ist?

Dann fiel ihr wieder die Frage ein, die sie sich kurz zuvor gestellt hatte. »Warum sollte Mirar einer von uns etwas Derartiges beibringen? Warum sollte er Auraya helfen oder ihr vertrauen?«

Juran sah sie an, und die Sorgenfalten auf seinem Gesicht vertieften sich. »Er kennt sie gut, und wir kennen ihn. Er ist… er ist Leiard.«

Benommenes Schweigen senkte sich über den Raum. Dyara nickte, erfüllt von bitterer Befriedigung. Sie hatte mit ihrer Vermutung richtiggelegen.

»Leiard!«, rief Mairae. »Wie ist das möglich? Wir alle sind ihm begegnet. Wir alle haben seine Gedanken gelesen. Warum haben wir seine wahre Identität nicht erkannt?«

Juran breitete die Hände aus. »Ich habe keine Ahnung. Wenn er seinen Geist vor den Göttern beschirmen kann, wer weiß, welche anderen Gaben er dann noch besitzt? Vielleicht hat er die Fähigkeit erworben, seine Identität hinter einer falschen Persönlichkeit zu verbergen.«

»Aber du weißt, wie er aussieht«, wandte Rian ein. »Warum hast du ihn nicht erkannt?«

»Er hat anders ausgesehen als zu der Zeit, da ich ihn kannte.« Juran seufzte. »Es ist hundert Jahre her, und mein Gedächtnis ist verblasst.« Er ging zu einem Tisch hinüber und griff nach einem Pergamentbogen. »Nach Mirars Tod sind fast alle Statuen und Gemälde von ihm zerstört worden. Ich habe Priester in ganz Nordithania beauftragt, nach möglichen Zeugnissen zu suchen. Dies ist eine Zeichnung von einer Schnitzerei, die vor einigen Jahren in den Ruinen eines alten Traumweberhauses gefunden wurde.«

Er reichte die Zeichnung an Dyara weiter. Als sie das Gesicht darauf sah, sog sie scharf den Atem ein. Es war glatter und voller als das Leiards und bartlos, aber immer noch erkennbar. Sie gab die Zeichnung Rian, der finster die Stirn runzelte, als auch er das Gesicht identifizierte.

Dyara lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und dachte an die Zeit von Leiards Ankunft in der Stadt und die entferntere Vergangenheit zurück. Er hatte Auraya als Kind gekannt. Er hatte sie aufgesucht, nachdem sie von den Göttern als Weiße erwählt worden war. Sie hatte ihn zum Traumweberratgeber gemacht. Als ihr dämmerte, welche Konsequenzen Mirars einflussreiche Stellung innerhalb der Zirkler gehabt haben mochte, stöhnte sie.