»Wie weit reicht es zurück?«, fragte sie laut. »Wusste er, dass sie eine Weiße werden würde? War es Zufall, oder hat er dafür gesorgt, dass sie hierherkam, als sein ahnungsloses Werkzeug?«
Juran starrte Dyara an. »Gewiss nicht.«
»Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen«, sagte sie.
»Ich bezweifle, dass er die Dinge auf solche Weise arrangiert hat«, erwiderte Rian, »aber als er hörte, was aus ihr geworden war, konnte er vermutlich der Chance, Einfluss auf sie zu nehmen, nicht widerstehen. Er ist ihr hierhergefolgt, um ihr Vertrauen zu gewinnen.«
»Und um in ihr Bett zu gelangen!«, zischte Dyara. Wut stieg in ihr auf, und sie blickte zu Juran. »Er ist wahrhaftig der Schurke, den du früher einmal gekannt hast. Er hat seinen Einfluss auf sie genutzt, um die Zirkler dazu zu bewegen, seinen Orden zu akzeptieren.« Ein bitteres Triumphgefühl stieg in ihr auf. »Aber er ist zu weit gegangen. Es war ein Fehler, sich Zutritt zu ihrem Bett zu verschaffen. Nachdem die Affäre entdeckt wurde, ist er nach Si gegangen, wohlwissend, dass sie dorthin zurückkehren würde. Jetzt versucht er von neuem, sie zu verführen, und er benutzt seine Kenntnisse der Magie als Köder.«
Sie sah Juran an. Er schüttelte den Kopf, aber ob diese Geste Miras Plan galt oder lediglich der grauenhaften Situation, in der sie sich befanden, konnte sie nicht erraten.
Er begann von neuem, im Raum auf und ab zu gehen. »Was du sagst, könnte der Wahrheit entsprechen, Dyara, aber es könnte auch ein Irtum sein. Als ich Leiard wegen seiner Affäre mit Auraya zur Rede stellte, habe ich seinen Geist erforscht und keine Hinweise darauf gefunden, dass er Mirar war, ebenso wenig wie ich irgendwelche großen Pläne entdecken konnte, gegen uns zu arbeiten. Was ich sah, war ein Mann, der Auraya liebte. Es mag eine hoffnungslose, von Angst gezeichnete Liebe gewesen sein, aber sie war echt. Das kann er nicht erfunden haben.«
»Und sie liebt ihn ihrerseits«, murmelte Mairae. »Oder zumindest hat sie es getan.«
»Was sie geliebt hat, war eine Lüge«, warf Rian ein.
»Dann ist es ein Glück, dass sie ihn nicht mehr liebt«, sagte Dyara. »Denn sie wird ihn töten müssen.«
Wieder senkte sich Schweigen über den Raum. Mairaes Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sah Juran an. »Das könnt ihr nicht von ihr verlangen.«
»Sie ist in Si«, erwiderte Juran müde. »Jeder von uns würde Monate brauchen, um dorthin zu gelangen.«
»Das könnt ihr nicht von ihr verlangen«, wiederholte Mairae. »Selbst wenn sie weiß, dass er nicht der Mann ist, den sie einmal geliebt hat, wäre es zu grausam, ihr zu befehlen, ihn zu töten.«
»Wenn sie erfährt, wer er ist und wie er sie benutzt hat, wird sie verstehen, dass wir ihn nicht am Leben lassen können!«, erklärte Rian mit Nachdruck.
Dyara zuckte zusammen. Sie neigte dazu, Mairae recht zu geben. »Was erwarten die Götter von uns?«
Juran lächelte dünn. »Sie sind noch zu keiner endgültigen Entscheidung gekommen.«
»Wenn sie fragen, ich bin bereit, die Tat an Aurayas Stelle auszuführen«, sagte Dyara. »Ich gebe Mairae recht, dass es grausam wäre, etwas Derartiges von Auraya zu verlangen. Es gibt andere Möglichkeiten, dies zu tun. Wir könnten Auraya zum Beispiel als Köder benutzen, um ihn aus Si fortzulocken.«
Juran nickte. »Das werde ich den Göttern vorschlagen. Danke.«
Eine Weile sprach keiner von ihnen, da sie alle über diese neue Enthüllung und ihre Konsequenzen nachgrübelten.
Nach einer Weile richtete Dyara sich auf. »Wir können nur auf die Entscheidung der Götter warten. Lasst uns in unsere Quartiere zurückkehren und morgen noch einmal zur Beratung zusammenkommen.«
Als sie aufstand, folgten Mairae und Rian ihrem Beispiel. Schweigend verließen sie den Raum. An der Tür drehte sich Dyara noch einmal um. Juran lächelte grimmig. Als sie hinaustrat, durchzuckte sie ein Stich des Mitgefühls. Er würde heute Nacht keinen Schlaf finden. Seine Geister waren wahrhaft zurückgekehrt, um ihn zu verfolgen.
Er hat sich nie verziehen, dass er Mirar getötet hat, dachte sie. Jetzt weiß er, dass er sich hundert Jahre lang für eine Tat schuldig gefühlt hat, die er nicht begangen hat.
36
Es waren viele Jahrhunderte vergangen, seit Emerahl das letzte Mal den Golf des Grams hinaufgesegelt war. Sennon mit seinen Wüsten und seinen trostlosen Städten barg keinen Reiz für sie. In ihrem langen Leben hatte sie den Kontinent von Nordithania niemals verlassen, außer um das Inselvolk von Somrey zu besuchen, das heutzutage ohnehin als Teil von Nordithania galt.
Wenn sie in der Mitte des Golfs gesegelt und die Luft weniger neblig gewesen wäre, hätte sie sowohl Nord- als auch Südithania gleichzeitig sehen können, aber die Notwendigkeit, von Zeit zu Zeit ihre Vorräte wieder aufzufüllen, zwang sie, sich in der Nähe der sennonischen Küste zu halten. Sie hätte versuchen können, sich in Avven mit Proviant zu versorgen, aber sie wusste nicht, welchen Empfang man ihr auf dem südlichen Kontinent bereiten würde, und da sie die Sprache der Einheimischen nicht beherrschte, wäre ein Handel mit ihnen schwierig gewesen. Sennon dagegen hatte sich in den letzten Jahrhunderten kaum verändert. Selbst die Sprache war noch fast die gleiche wie bei ihrem letzten Besuch.
Wohin sie auch blickte, überall war der Horizont neblig vom Staub, den der gleiche Wind aufwirbelte, der auch ihr Boot nach Osten trieb. Vor ihr lag die Landenge von Gria, ein Streifen Landes, der den Golf des Grams vom Golf des Feuers trennte. Dort, wo die Landenge das Gebiet von Sennon erreichte, lag die Stadt Diamyane. Dort würde ihre Seereise enden.
Sie kaute auf ihrer Unterlippe und klopfte sachte auf die Ruderpinne. Das kleine Boot hatte sie während der letzten Monate einen weiten Weg getragen. Es hatte etlichen Stürmen und dem ungewöhnlichen Druck standgehalten, bisweilen von Magie angetrieben zu werden. Sie würde das Boot vermissen. Wenn sie es jedoch über die Landenge hätte transportieren wollen, hätte sie jemanden dafür bezahlen müssen, es bis auf die andere Seite des Meeres hinüberzuschaffen, und sie bezweifelte, dass sie dafür genug Geld hatte. Sobald sie ihr Boot verkauft hatte, konnte sie sich einer Handelskarawane anschließen, die nach Osten reiste, oder falls sie sich das leisten konnte, eine Überfahrt auf einem Schiff kaufen.
Schließlich schob sie ihr Bedauern beiseite und rief sich ins Gedächtnis, dass sie diese Entscheidung schon vor Monaten getroffen hatte und dass es keinen Sinn haben würde, ihre Meinung zu ändern. Sie hätte um Südithania herumsegeln können, aber dadurch wäre die Reise um mehrere Monate länger geworden. Sie hätte auch um die obere Spitze Nordithanias segeln können, doch dann wäre sie an Jarime vorbeigekommen, und sie zog es vor, die von den Weißen beherrschten Länder zu meiden.
Mirar hatte sie in einer Traumvernetzung gewarnt, dass die Siyee ihre Küste genau bewachten, nachdem die Pentadrianer vor einigen Monaten dort gelandet und wieder fortgeschickt worden waren. Außerdem hatte er ihr mitgeteilt, dass Auraya in Si war. Aber es war immer noch besser, in der Nähe einer Weißen zu reisen, als womöglich vier von ihnen begegnen zu müssen. Emerahl hatte reichlich Vorräte mitgenommen, so dass sie es vermeiden konnte, in Si an Land gehen zu müssen. Keine fliegende weiß gekleidete Zauberin hatte sich ihr genähert, und während des größten Teils der Reise waren die Winde ihr gewogen gewesen. Bis jetzt hatte sie keinen Grund gehabt, ihre Entscheidung zu bereuen.
Plötzlich tauchten in dem staubigen Nebel vor ihr unnatürlich regelmäßige Umrisse auf. Als sie näher kamen, stellte sich heraus, dass es sich um Gebäude handelte. Emerahl lenkte ihr Boot darauf zu.