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»Du warst dort…?«

Ja.

Auraya schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte während der Vernetzung Bruchstücke von Leiards Gedanken gesehen. Und nichts von dem, was ihr dabei offenbar geworden war, hatte etwas anderes enthüllt als Kenntnisse der Heilkunst.

Als du abgelenkt warst, hat er seinen Schild sinken lassen, weil er glaubte, ihm drohe keine Gefahr.

Sie forschte in ihren Erinnerungen an Leiard. Als Erstes erinnerte sie sich an ihn, wie er gewesen war, als er in dem Wald in der Nähe ihres Dorfes gelebt und sie unterrichtet hatte. Hatte es irgendwelche Anzeichen dafür gegeben, dass er in Wirklichkeit Mirar war? Sie konnte nichts Derartiges entdecken.

Als Nächstes führte sie sich den Mann vor Augen, der in Jarime ihr Ratgeber gewesen war. Er hatte sich so unwohl im Tempel gefühlt. Sie hatte vermutet, dass es wohl jedem Traumweber so ergangen wäre. War seine Furcht vor allem, was mit der zirklischen Religion zu tun hatte, ein Hinweis auf seine wahre Identität gewesen? Er hatte diese Furcht überwunden und war Traumweberratgeber geworden. Allerdings war es nicht seine Idee gewesen, sondern ihre. Die Traumweber hatten von seiner Arbeit profitiert, aber daran war nichts Ungewöhnliches oder Unrechtes. Jeder Traumweber hätte danach getrachtet, das Gleiche zu tun.

Es sei denn, er hätte seine Position irgendwie dazu benutzt, ohne ihr Wissen andere Vorteile zu erlangen …

Du siehst nicht das ganze Ausmaß seines Betrugs, Auraya. Leiard existiert nicht. Es hat ihn nie gegeben. Der Mann, den du kanntest, war eine Erfindung und dazu geschaffen, dich zu manipulieren.

Auraya runzelte die Stirn. Sie hielt Ausschau nach etwas Ungewöhnlichem in Leiards Verhalten. Sie sollte sich fragen, wie Mirars Verhalten gewesen war. Wenn es sein Ziel gewesen war, sie mit der Erfindung Leiards zu täuschen, so hatte er Erfolg gehabt. Er hatte zuerst ihre Freundschaft und ihr Vertrauen gewonnen, dann ihre Liebe. Sie dachte an die Traumvernetzungen, an die Beteuerungen seiner Liebe, an die Versprechen. Nichts davon war echt gewesen. Sie schauderte. Sie hatte… Dinge mit einem Mann getan, den sie nicht wirklich kannte und dessen Absichten weder für sie noch für die Götter oder die Zirkler im Allgemeinen gut gewesen sein konnten.

Worin bestand dann Mirars wahre Absicht? Hat Juran seine Pläne durchkreuzt, als er unsere Affäre entdeckte und ihn fortschickte? Ist Mirar nach Si gekommen, weil er hoffte, mich dort anzutreffen und unsere Affäre fortsetzen zu können?

Während ihr die verschiedenen Möglichkeiten durch den Kopf gingen, stieg wachsender Zorn in ihr auf. Ich war bereit, so viel für Leiard zu riskieren! Aber ich habe gesehen, dass er sich verändert hatte, wurde ihr plötzlich klar. Als wir uns vernetzt haben, damit er mich unterweisen konnte, habe ich einen Unterschied gespürt. Was hat er noch einmal gesagt? »Ich bin nicht mehr der, der ich war.«

Jetzt erkennst du die Wahrheit, sagte Huan. Sie wird dir Schmerz bereiten. Wir wünschten, es wäre nicht so. Es wäre besser, wenn dieser Fehler nie gemacht worden wäre. Halte an deinem Zorn fest. Du wirst ihn brauchen, um zu tun, was getan werden muss. Die anderen Weißen sind viel zu weit entfernt, um zu handeln. Du bist in der Nähe, und du hast den Vorteil der Überraschung auf deiner Seite. Er wird nicht damit rechnen, dass du diejenige bist, die ihn hinrichten soll.

»Hinrichten?« Auraya wurde kalt bis auf die Knochen.

Ja. Du zögerst zu töten. Das ist gut; wir wären enttäuscht von dir, wenn es anders wäre. Aber er muss sterben – und diesmal richtig. Ich werde dich leiten.

»Wann?«

Jetzt.

»Aber die Siyee…?«

Du wirst nicht lange dafür brauchen, Auraya.

»Oh.« Sie fühlte sich eigenartig orientierungslos. Ich werde keine Zeit haben, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen, nicht wahr? Ich werde mir anschließend darüber klar werden müssen, was das alles bedeutet.

Ja. Du darfst dich von nichts ablenken lassen, warnte Huan sie. Er ist stark. Es wird schwierig werden. Er wird versuchen, dich zu manipulieren. Er wird alles daransetzen, dich aufzuhalten.

Natürlich wird er das tun, dachte sie. Ich bezweifle, dass er sterben will.

Ich werde dich leiten. Geh jetzt, Auraya. Finde ihn.

37

Der Atem der Ruderer formte sich in der Luft zu weißem Nebel, doch Imi war angenehm warm. Sie hatte sich zuerst gefragt, warum Imenja die Luft um die Mannschaft herum nicht mit ihrer Magie erwärmte, aber dann waren ihr die Schweißperlen auf der Stirn der Männer aufgefallen, und sie hatte begriffen, dass ihnen von der Anstrengung bereits heiß genug war. Wenn sie sich in Imenjas Wärmeblase befunden hätten, hätten sie sich unbehaglich gefühlt.

Zu beiden Seiten des Horizonts waren Wolken sichtbar. Sie dämpften das Licht der herannahenden Morgendämmerung. Das Meer, das Boot und selbst die gebräunten Gesichter der Ruderer waren von einem ungesunden Grauton. Es war, als sei alle Farbe aus der Welt herausgesaugt worden.

Die Küste war eine dunkle, gebirgige Linie, die aus dem Nachthimmel hervortrat, getrennt von dem dunklen Wasser durch einen Streifen bleichen Sandes. Imenja wandte sich zu Imi um. Ihr Blick war ruhig, und sie lächelte nicht, als sie Imi eine Hand auf die Schulter legte.

»So weit können wir uns der Küste nähern, ohne das Risiko einzugehen, gesehen zu werden«, sagte sie. »Sind wir dem Ufer nahe genug?«

Imi nickte. »Ich glaube, ja.«

»Geh keine unnötigen Risiken ein.«

»Keine Sorge, das werde ich nicht tun.«

»Wir werden heute Nachmittag hierher zurückkehren. Viel Glück.«

Imi lächelte. »Also dann, bis später.«

Sie trat an den Rand des Bootes. Es schaukelte zu heftig in den Wellen, als dass sie gefahrlos ins Wasser hätte springen können. Das Beste würde sein, wenn sie sich auf die Reling setzte und sich fallen ließ, sobald das Boot sich in die richtige Richtung neigte.

Ihr Plan funktionierte recht gut, auch wenn es kaum ein eleganter Abgang für eine Prinzessin war. Das Wasser war herrlich kalt. Sie holte tief Luft, tauchte unter die Oberfläche und schwamm auf die Küste zu.

Vom Boot aus hatte sie den Eindruck gehabt, dass die Entfernung gering war, aber sie brauchte länger als erwartet, um das Ufer zu erreichen. Das Wasser war schlammig, und das Licht des nahenden Sonnenaufgangs war noch zu schwach, um unterhalb der Oberfläche viel erkennen zu können. Imi war selten so weit draußen auf dem Meer gewesen und niemals allein. Sie konnte sich mühelos vorstellen, dass aus der Düsternis um sie herum plötzlich etwas auftauchte. Etwas Großes, Massiges. Oder vielleicht etwas Kleineres und Schnelleres wie eine Flarke, etwas, das man nur für einen Augenblick sah, bevor es angriff.

Ein Schauer überlief sie, ähnlich dem Gefühl, das sie manchmal hatte, wenn sie glaubte, niesen zu müssen, es aber nicht konnte.

Plötzlich wurde das Wasser heller. Sie stieg an die Oberfläche auf, weil sie vermutete, die Sonne müsse aufgegangen sein, aber es hatte sich nichts verändert. Vor ihr lag der Strand, der jetzt einen Bogen um eine seichte Bucht bildete. Als sie wieder hinabblickte, stellte sie fest, dass sie den bleichen Meeresboden unter sich sehen konnte. Sie schwamm weiter.

Schon bald begann das Wasser um sie herum, an ihr zu zerren. Es brodelte und zuckte über ihr. Sie hatte schon früher von dem Phänomen der Brandung gehört, hatte aber nie versucht, darin zu schwimmen. Ein Wassertänzer hatte ihr einmal davon erzählt. Er hatte gesagt, wenn man nur wüsste, wie, könne man die Wellen reiten. Während sie nun auf einer dieser Wellen emporglitt, suchte sie nach dem Teil, den man reiten musste. Sie wusste, dass sie ihn gefunden hatte, als sie spürte, wie die Wucht der Welle sie einfing und vorwärtsstieß.