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Der Gedanke tröstete sie jedoch nicht, sondern brachte ihr nur noch größeres Unbehagen. Ich kann nicht glauben, dass Juran versucht hat, Mirar zu töten, ohne sich davon zu überzeugen, dass es gerechtfertigt war. Obwohl sie wusste, dass es seine Pflicht war, den Willen der Götter zu tun, war er dadurch doch in ihrem Ansehen gesunken. Ich frage mich, ob er weiß, was geschehen ist

Eine der Siyee erwachte und bat um Wasser. Da Tyve sich nicht von der Stelle rührte, beeilte sich Auraya, der Frau eine Schale zu bringen. Als sie sie ihr an die Lippen hielt, stieg eine furchtbare Angst in ihr auf, und sie erstarrte.

Eine vertraute Präsenz bewegte sich auf sie zu. Auraya stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie Chaia erkannte.

Auraya, sagte er.

Chaia!

Wie ich sehe, brauche ich dir nicht zu erzählen, dass du in Schwierigkeiten bist, fuhr er fort. Er sprach leichthin, aber sie spürte eine tieferliegende Sorge.

Nein, erwiderte sie.

Eine Hand legte sich auf ihre. Sie schaute verblüfft auf und sah, dass Tyve ihr die Schale abnahm. Er bedeutete ihr, die Patientin ihm zu überlassen. Auraya ging zum Eingang der Laube hinüber.

Warum habe ich es getan?, fragte sie Chaia. Oder warum habe ich es nicht getan?

Du hast ein Gewissen, entgegnete er. Du musst dich davon überzeugen, dass deine Taten gerechtfertigt sind. Für dich ist Gerechtigkeit wichtiger als Gehorsam. Das ist ein Teil deines Wesens, der mir gefällt. Unglücklicherweise sind die anderen nicht meiner Meinung.

Alle anderen oder nur Huan nicht?

Wir mögen unterschiedliche Ansichten vertreten, aber in unseren Entscheidungen sind wir einig, Auraya. Es steht dir nicht zu, zu erfahren, wie jeder Einzelne von uns denkt.

Sie trat hinaus. Das Sonnenlicht war zu grell, und sie machte sich auf den Weg zu einem schattigen Plätzchen.

Du und die anderen Götter müsst gewusst haben, dass dies ein Teil meines Wesens ist. Warum habt ihr mich als Weiße erwählt?

Weil die Weißen nicht alle gleich sein dürfen. Ein jeder von euch besitzt seine eigenen Stärken und Schwächen. Wenn ihr zusammenarbeitet, werden eure Schwächen verringert und eure Stärken betont. Deine eigene Schwäche – dein Mitgefühl – ist auch deine Stärke. Ein Anführer, der ohne Fragen töten kann, wird wohl kaum die Barmherzigkeit besitzen, die vonnöten ist, um für alle Beteiligten günstige Allianzen auszuhandeln und anderen Menschen zu helfen, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen.

Warum hat Huan mich dann für diese Aufgabe ausgewählt?

Ich fürchte, du warst die falsche Weiße am falschen Ort und zur falschen Zeit. Du hättest nicht diejenige sein dürfen, die Mirar hinrichten soll – und nicht nur weil du einmal einen Teil von ihm geliebt hast.

Ein Hoffnungsfunke flammte in Auraya auf.

Dann ist mir also verziehen?

Nicht ganz, erwiderte Chaia. Einige von uns glauben, dass die Weißen gehorsam sein müssen, ganz gleich, von welcher Wesensart sie sind. Wenn die Weißen unterschiedliche Naturen haben, dann ist es unvermeidlich, dass sie bisweilen anderer Meinung sind. Im Fall eines Konflikts müssen sie sich an uns wenden, was die Lösung des Problems betrifft. Sie müssen uns gehorchen, oder ihre Einigkeit wird durchbrochen sein.

Auraya wurde flau im Magen.

Huan will nach wie vor, dass ich Mirar ermorde.

Du sollst ihn hinrichten, nicht ermorden.

Nachdem ihre Hoffnungen solchermaßen zunichtegemacht worden waren, überraschte es sie, dass Ärger in ihr aufloderte.

Und wenn ich mich abermals weigere?, fragte sie.

Dann wirst du bestraft werden. Wie weit diese Strafe gehen wird, kann ich nicht ermessen. Ich habe einige Zeit gebraucht, um die anderen dazu zu überreden, dir eine zweite Chance zu geben. Außerdem habe ich darauf bestanden, dass man dir einen Tag Zeit lässt, um über deinen Auftrag nachzudenken und dich zu fragen, welche Konsequenzen es hätte, wenn du dich weigerst beziehungsweise dich gehorsam zeigst. Während du das tust, solltest du eines nicht vergessen: Manchmal stehen wir einem Problem gegenüber, bei dem alle Lösungen unerfreulich sind, bei dem man sich für die am wenigsten schädliche Möglichkeit entscheiden muss. Bedenke, welche Entscheidung den Menschen, die du zu schützen geschworen hast, am wenigsten schaden wird.

Mirar hat nicht die Absicht, etwas gegen uns zu unternehmen.

Nein? Das mag jetzt so sein, aber das bedeutet nicht, dass er es in Zukunft nicht versuchen wird. Er ist mächtig und klug – das weißt du. Er hasst uns – auch das weißt du. Kannst du das Risiko eingehen, dass er, sollte sich ihm eine Gelegenheit bieten, uns Schwierigkeiten zu machen, diese Gelegenheit nicht nutzen wird?

Auraya schüttelte den Kopf.

Bedenke auch, was geschehen könnte, sollte er seine Rolle als Anführer der Traumweber zurückverlangen, drang er weiter in sie. Er kann sie durch Träume aus einem anderen Land heraus beeinflussen und leiten.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Nicht einmal eine Verbannung war eine annehmbare Lösung.

Und erwäge auch die Möglichkeit, dass du Leiard vielleicht noch immer liebst.

Das tue ich nicht, erwiderte sie.

Nein? Ich kenne dein Herz, Auraya. Ich weiß, dass dort noch immer große Zuneigung für ihn ist und dass du nach wie vor verwirrt und unentschlossen bist. Er wird versuchen, dich auch weiterhin an sich zu binden, wenn er es vermag, nicht nur weil er noch immer in dich vernarrt ist, sondern weil du ihm keinen Schaden zufügen wirst, solange du dir deiner Gefühle noch unsicher bist. Erst wenn diese Bindung der Vergangenheit angehört, wirst du wieder frei sein, um abermals zu lieben.

Auraya schlang die Arme um sich. Sie fühlte sich krank. Elend. Zerrissen.

Ich kann dir keinen Trost spenden, Auraya, obwohl ich wünschte, ich wäre dazu in der Lage, sagte Chaia bekümmert. Ich kann nicht liebevoll sein oder deine Alpträume verscheuchen, damit die anderen nicht auf den Gedanken kommen, ich würde dich für deinen Ungehorsam belohnen. Sie sind damit einverstanden gewesen, dass ich mit dir spreche, da du mich am besten kennst. Ich bitte dich als dein Freund und Geliebter: Tu, was Huan verlangt.

Er entfernte sich. Auraya blieb noch lange Zeit allein sitzen und ließ sich alles, was er gesagt hatte, durch den Kopf gehen; dann erhob sie sich und kehrte zu den Lauben zurück. Sie musste nachdenken, aber die Siyee brauchten ihre Hilfe, und das war wichtiger.

39

Mirar zog Magie in sich hinein und wärmte die Luft um sich herum. Während der Monate, in denen er die Siyee behandelt hatte, hatte er den Wechsel der Jahreszeiten kaum wahrgenommen, so beschäftigt war er mit seiner Arbeit gewesen. Jetzt spürte er die Kühle des Winters in der Luft, vor allem in diesen letzten Stunden vor dem Sonnenaufgang. Er lehnte sich an einen Baum und schloss die Augen.

Obwohl er den ganzen Tag und den größten Teil der Nacht hindurch gewandert war, diente diese Pause nicht der Ruhe oder dem Schlaf. Er leerte seinen Geist und sandte sich in eine Traumtrance.

Emerahl?

Seit ihrem Aufbruch aus Si hatten sie sich alle paar Tage durch Traumvernetzungen in Verbindung gesetzt. In letzter Zeit machte sie zunehmend ein Geheimnis um ihren Aufenthaltsort oder ihr Ziel. Er hoffte, dass dies bedeutete, dass sie einen gewissen Erfolg bei ihrer Suche nach anderen Unsterblichen gehabt hatte, ihm aber noch nicht davon erzählen konnte.