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Dennoch, wenn die Menschen erführen, dass eine der Weißen den Göttern den Gehorsam verweigert hatte, würde auch ihr Glaube an die Götter und an die Weißen erschüttert werden. Sie würden sich fragen, ob die Götter mit ihr eine schlechte Wahl getroffen hatten, und vielleicht würden sie auch an den anderen Weißen zu zweifeln beginnen. Sie würden zu dem Schluss kommen, dass, wenn ein wenig Ungehorsam ab und zu für eine Weiße akzeptabel war, es ebenso akzeptabel sein müsse, wenn auch die Zirkler sich so verhielten.

Aber die Menschen brauchen nicht von meinem Ungehorsam zu erfahren, überlegte sie weiter. Nur die Weißen und die Götter werden davon wissen. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich mich fühlen würde, wenn ich ihnen gehorchte. Aber wie würde ich mich fühlen, wenn ich ihnen trotzte?

Sie würde sich schuldig fühlen, das wusste sie. Aber sie würde auch erleichtert sein. Sie würde sich selbst mehr achten, wenn sie für das eintrat, was sie für richtig hielt, auch wenn es sie in ihren Augen herabsetzen würde, dass sie den Göttern den Respekt verweigert hatte. Dennoch war es ihr lieber, von sich selbst enttäuscht zu sein als von den Göttern.

Ich erwarte nicht, dass die Götter eine öffentliche Verhandlung abhalten, ich erwarte lediglich, dass sie Mirar erlauben, Nordithania zu verlassen. Falls er zurückkehrt… nun, dann werde ich mich um ihn kümmern. Und wenn sie mich bestrafen, dann soll es eben so sein.

Nachdem sie zu diesem Schluss gekommen war, fühlte sie sich ein wenig besser. Ist dies meine Entscheidung?, fragte sie sich. Bin ich bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen?

Welche Strafe würden sie für sie auswählen? Sie glaubte nicht, dass sie sie töten würden, wie Mirar es befürchtete. Sie würden ihr auch ihre Position als Weiße nicht entziehen. Das würde die Menschen ebenso erschrecken wie die Hinrichtung einer Weißen. Nein, wann immer sie überlegte, welches die schlimmste Strafe war, die sie ihr auferlegen konnten, sah sie nur eine Möglichkeit: Sie würden ihr die Fähigkeit des Fliegens entziehen.

Allein beim Gedanken an diese Möglichkeit hatte sie das Gefühl, als würde ihr das Herz entzweigerissen.

Wenn sie das tun, möchte ich dir geraten haben, mein Opfer zu schätzen, Mirar, dachte sie. Du solltest besser aus Nordithania verschwinden und nie mehr zurückkehren, denn wenn du das doch tust, werde ich dich töten.

Sie schloss die Augen und seufzte. Ich schätze, das bedeutet, dass ich mich entschieden habe. Was jetzt? Soll ich Chaia rufen und

Ihre Gedanken wurden von zwei Siyee unterbrochen, die einige Schritte entfernt von ihr landeten. Sie kamen auf sie zugeeilt, und beide verströmten Dringlichkeit und Furcht.

»Auraya von den Weißen«, sagte der größere und machte das Zeichen des Kreises.

»Was ist los? Was ist passiert?«

»Vor einigen Tagen ist ein Schiff der Pentadrianer vor der Küste gesehen worden«, sagte er. »In Sichtweite des Dorfes vom Sandstamm.«

»Sind sie an Land gegangen?«

»Nein. Außerdem ist einige Tage zuvor auch weiter im Osten ein Schiff gesehen worden.«

»Ein anderes Schiff oder dasselbe?«

»Das wissen wir nicht.«

Sie erhob sich. »Ich werde nach Süden fliegen und der Sache nachgehen.«

»Vielen Dank«, antwortete der größere der Siyee.

Als sie in die Mitte des Dorfes davongingen, eilte Auraya in die Laube. Tyve nickte ihr zu und lächelte schief, nachdem sie ihm erklärt hatte, dass sie den Stamm verlassen würde; er fragte sich, ob er jemals erfahren würde, was zwischen ihr und Wilar vorging. Schließlich wandte sie sich hastig ab und trat hinaus.

Als sie in den Himmel emporschnellte, schlug eine Welle der Traurigkeit über ihr zusammen. Dies könnte mein letzter Flug sein. Ich sollte das Fliegen genießen, solange ich noch kann. Dann lachte sie laut auf. Wenn Mirar recht hat und die Götter beschließen, mich zu töten und mir meine Gaben zu nehmen, während ich in der Luft bin, wäre das gewiss eine wirksame Methode, ihr Ziel zu erreichen.

Imi war an Deck gekommen, als die erste Insel gesichtet worden war, und trotz des Regens blieb sie an der Reling stehen. Bisher war das Schiff lediglich an kleinen Felsen vorbeigekommen, die man kaum Inseln nennen konnte. Jetzt zeichneten sich vor ihr größere Umrisse ab, die sie von den Bildern im Palast kannte.

»Die Steinige Insel«, murmelte sie, als sie an einer Insel vorüberfuhren, auf der keinerlei Pflanzen wuchsen. In der Ferne lag eine flache, von Bäumen bewachsene Insel. »Die Jungfraueninsel.«

Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Imenja und Reivan kamen auf sie zu und gesellten sich zu ihr an die Reling.

»Ist dies deine Heimat, Imi?«, fragte Imenja.

Imi nickte. »Ja.« Als das Schiff die Steinige Insel hinter sich gelassen hatte, fuhr es in einen Ring von Inseln ein. »Das ist Borra.«

»Ist von den alten Siedlungen auf den Inseln noch etwas übrig?«, erkundigte sich Reivan.

Imi zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Wir können schon seit langer Zeit nicht mehr außerhalb der Stadt leben. Einige Leute haben es versucht, aber die Plünderer haben sie getötet.« Sie lächelte. »Allerdings ist es den Plünderern ebenfalls niemals gelungen, sich dort niederzulassen, weil wir ihre Häuser niederbrennen.«

»Hat dein Volk Verteidigungswälle um eure Siedlungen erbaut?«

»Verteidigungswälle?«

»Mauern. Vielleicht am Strand, um Boote an der Landung zu hindern.«

»Ich weiß es nicht.« Imi lächelte. »Das klingt nach etwas, von dem ihr meinem Vater erzählen solltet. Wenn wir uns verteidigen könnten, würden wir vielleicht eine Möglichkeit finden, uns dieser Plünderer zu entledigen.«

Zu ihrer Überraschung schüttelte Reivan den Kopf. »Solange es Handel zwischen Nord- und Südithania gibt, wird es in diesen Gewässern auch Diebe geben. Der Wind ist günstig für Schiffe, die an diesen Inseln vorbeisegeln, aber es gibt an der Küste von Si keine größeren Häfen. Dadurch kann man hier in der Nähe keinen Stützpunkt für eine Flotte von Schiffen errichten, die den Plünderern etwas entgegensetzen könnten.«

»Es ist ein Jammer, dass wir mit den Siyee kein Abkommen aushandeln können, um gegen diese Plünderer vorzugehen«, sagte Imenja.

Imi runzelte die Stirn. »Warum hat mein Volk das nicht getan?«

Reivan zuckte die Achseln. »Ich habe gehört, dass die Siyee vor ihrem Bündnis mit den Weißen ein friedliches Volk waren.«

»Sie hatten ihre eigenen Probleme mit den Landgehern«, sagte Imi, nachdem ihr wieder eingefallen war, was Teiti ihr erzählt hatte. »Sind diese Probleme jetzt gelöst?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Reivan. Sie sah Imenja an, aber die Frau sagte nichts.

Imi beschloss, ihren Vater danach zu fragen. Sie blickte zu dem Gipfel, wo sich, wie sie wusste, der Ausguck befand, und mit einem Mal stieg Sehnsucht in ihr auf. Erst wenn die starken Arme ihres Vaters sich um sie schlossen, würde sie wirklich das Gefühl haben, nach Hause gekommen zu sein.

»Werden sie uns entgegenkommen, Imi?«, fragte Imenja.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand Imi. »Sie haben Angst vor Landgehern. Vielleicht werden sie kommen, wenn sie mich sehen.«

»Dafür sind wir noch ein wenig zu weit entfernt.« Imenja trommelte mit den Fingern auf die Reling. »Wir sollten dich an Land bringen.«