Sie verzog das Gesicht. »Eine Menge, Vater. Lass uns hineingehen, dann werde ich dir alles erzählen.«
Er nickte, legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie durch die Palasttore.
41
Es hatte wenig Sinn, das Ganze noch einmal durchzugehen. Er hatte über alles nachgedacht, was er getan hatte, und sich die möglichen Konsequenzen vor Augen geführt. Er hatte fruchtlose Stunden darauf verwandt, darüber nachzugrübeln, was er anders hätte machen können.
Aber auch wenn die Reise durch Si einen großen Teil von Mirars Aufmerksamkeit beanspruchte, ließ sie ihm dennoch ein wenig Raum zu anderen Erwägungen. Der Teil von ihm, der nicht damit beschäftigt war, endlos zu klettern und weite Strecken zurückzulegen, ließ es sich nicht nehmen, sich ständig im Kreis zu drehen, und wann immer er versuchte, an etwas anderes zu denken, kehrte er schon bald wieder zu Auraya und zu sich selbst zurück oder zu den Weißen und den Göttern.
Und dann wäre da noch Emerahl. Warum musste ich ausgerechnet an Emerahl denken, als ich Auraya meinen Geist geöffnet habe?
Sie war nur für einen kurzen Augenblick in seinen Gedanken gewesen, als Helferin und Freundin. Er hatte nicht an Emerahls Vorhaben gedacht, andere Unsterbliche ausfindig zu machen. Wenn die Götter sie erkannt hatten – und es war ebenso gut möglich, dass es sich nicht so verhielt -, würden sie die Weißen auf ihre Existenz aufmerksam machen. Sie wussten jedoch nicht, wo sie war. Solange Emerahl nichts tat, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, oder einem der Weißen in die Arme lief, drohte ihr keine Gefahr. Die Götter mochten nach ihr suchen, indem sie in den Geist Sterblicher blickten und Ausschau nach jemandem hielten, der für einen Menschen sichtbar, für sie selbst aber unsichtbar war, doch das würde einige Zeit in Anspruch nehmen, und sie mussten sich einer drängenderen Angelegenheit widmen – Auraya.
Er hoffte, dass sie recht hatte und die Götter sie nicht töteten, weil sie befürchten mussten, dass sie damit das Vertrauen ihrer Anhänger in die Weißen schwächen würden. Er wünschte sich inbrünstig, dass er sie nicht zum Tod verurteilt hatte, indem er ihr seinen Geist geöffnet hatte. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, sich selbst zu retten, aber er hatte es nicht nur aus Eigennutz getan. Er hatte gewollt, dass sie die Wahrheit sah. Gewollt, dass sie ihn endlich als das erkannte, was er war – und dass sie begriff, dass er sie liebte.
Du Narr, dachte er. Sie ist eine der Auserwählten der Götter. Sie kann dich nicht lieben.
Aber natürlich könnte sie das, wisperte ein anderer Teil seines Selbst.
Furcht regte sich in ihm. Kehrte Leiard zurück? Er suchte nach einer anderen Persönlichkeit in seinem Geist, konnte aber keine entdecken.
Ich bin Leiard, rief er sich ins Gedächtnis. Ich sollte besser akzeptieren, dass seine Schwächen meine sind, und dafür sorgen, dass ich nicht abermals andere in Gefahr bringe. Wenn ich Auraya nicht haben kann, sollte ich mich so weit wie möglich von ihr entfernen.
Die Luft in der steilen, schmalen Schlucht war feucht und reglos. Mirar musste gähnen, und er überlegte, kurz Halt zu machen, um zu schlafen. Er hatte sich seit seinem Aufbruch vom Blauen See kaum Ruhe gegönnt, und die Müdigkeit, die er so lange beiseitegedrängt hatte, erschien ihm plötzlich unerträglich.
Er stolperte. Als er hinabblickte, sah er die dünnen Reben, die kreuz und quer über seinen Weg verliefen. Sein Herz setzte einen Schlag aus, und er sah sich hastig um. Furcht vertrieb die Benommenheit aus seinen Gedanken.
Die Bäume und der Waldboden um ihn herum waren überwuchert von Schlafreben. Gefangen in einer endlosen Gedankenspirale, die sich um Auraya und die Götter drehte, hatte er nicht bemerkt, wohin die Schlucht ihn geführt hatte. Bei dem Gestank von verwesendem Fleisch drehte sich ihm der Magen um. Irgendwo unter dem üppigen Teppich mussten ein oder zwei Tierleichen verborgen liegen, Opfer der Gabe der Schlafrebe.
Jetzt, da er sich der heimtückischen Verlockung bewusst geworden war, fiel es ihm leicht, sich dagegen zu wehren. Er setzte sich wieder in Bewegung und stieg vorsichtig über die Reben auf dem Boden hinweg. Es handelte sich um eine große, ausgereifte Pflanze. Die Schlucht war ein natürlicher Pferch und trug der Pflanze wahrscheinlich viele Opfer ein.
Nach einer Weile wurde die Schlucht noch enger, aber die Reichweite der Reben endete bald. Mit einem Seufzer der Erleichterung stieg Mirar in den schmalen Felsspalt hinab. Er musste sich an mehreren Felsvorsprüngen vorbeizwängen oder darüber hinwegklettern.
Ich kann nur hoffen, dass dies keine Sackgasse ist…
Wenn Tyve ihn doch nur begleitet hätte. Er war davon überzeugt, dass der Junge mitgekommen wäre. Aber Tyves Geist stand den Göttern offen und hätte ihnen Mirars Aufenthaltsort verraten.
Einige Schritte vor ihm endeten die Felswände zu beiden Seiten, und gleichzeitig stürzte der Grund tief ab. Unten konnte er die Wipfel von Bäumen sehen, die sich im Wind wiegten. Am Ende der Schlucht angekommen, fand er sich auf einer Klippe wieder. Er war nicht in eine Sackgasse geraten, aber der Abstieg würde eine Menge Zeit und Konzentration erfordern.
Vor ihm erhoben sich Berge, und die Kletterpartie, die ihm als Nächstes bevorstand, war nichts im Vergleich zu dem, was ihm blühte, wenn er diese felsigen Hänge überqueren wollte. Emerahl hatte ihm vorgeschlagen, sich in Richtung der sennonischen Wüste zu wenden. Diese Durchquerung der Berge war die kürzeste Route. Die einfachere, wenn auch längere Route hätte ihn vom Blauen See aus flussabwärts zur Küste geführt, aber die Küste war der Ort, an dem die Götter ihn erwarten würden. Auch die Siyee würden dort nach ihm Ausschau halten, und er musste damit rechnen, dass die Weißen ihn dort empfangen würden. Sie würden nicht erwarten, dass er zuerst einen Berg überwand und es dann mit der Wüste aufnahm, um nach Südithania zu gelangen. Zumindest hoffte er, dass es sich so verhielt.
Seufzend setzte er sich hin, um zu essen und das vor ihm liegende Gelände zu betrachten. Obwohl der Wald einen großen Teil des Bodens verdeckte, konnte er einen Weg erkennen, der an den augenfälligeren Hindernissen vorbeiführte.
Ein Schatten glitt über ihn hinweg. Ein großer Schatten.
Er blickte gerade rechtzeitig auf, um einen Siyee zu sehen, der über den Absturz hinausglitt und dann aus seinem Blickfeld verschwand.
In diesem Teil von Si lebten nur wenige Siyee. Er gehörte zwar immer noch zum Gebiet des Stamms vom Blauen See, aber da es rund um den See so viel nutzbares Land gab, hatte der Stamm es nicht nötig, so weit hinauszufliegen, um Nahrung zu finden. Sie könnten nach etwas suchen, das es in ihrer Nähe nicht gibt, überlegte er. Nach seltenen Pflanzen vielleicht. Oder vielleicht wachen sie über ihr Land.
Oder sie könnten nach mir Ausschau halten.
Er stand auf und drängte sich in die Felsspalte. Ob sie nun nach ihm suchten oder nicht, wenn sie ihn sahen, würden sie den Göttern vielleicht seinen Aufenthaltsort verraten. Er hielt inne und dachte darüber nach, ob er umkehren sollte, statt weiter die Klippe hinunterzuklettern.
Die Klippe erstreckte sich in beide Richtungen über ein großes Gebiet, das eine natürliche Barriere zwischen ihm und den Bergen bildete. Er würde es damit aufnehmen oder einen weiten Umweg machen müssen.
Eine geflügelte Gestalt schwebte über ihn hinweg. Er nahm selbstgefällige Zufriedenheit und Geduld wahr. Alle Hoffnung schwand.
Er weiß, dass ich hier bin.
Also konnte er den Siyee ebenso gut zusehen lassen, wie er hinunterkletterte. Danach, im Schutz der Bäume, würde es viel leichter sein, einer Verfolgung zu entgehen.
Als Auraya sich dem Dorf des Sandstamms näherte, waren am Horizont keine schwarzen Schiffe zu sehen. Überall waren Siyee: zwischen den Lauben, an der Küste und am Himmel. Nachdem sie nahe genug herangekommen war, suchte sie in den Gedanken der Leute und spürte Sprecher Tyrli auf.