Als ihre Füße den Sand berührten, hatte sich bereits eine größere Menge von Siyee versammelt. Eine der Frauen aus dem Dorf hatte zwei Schalen mitgebracht, die Tyrli Auraya darbot. Eine war voller Wasser, die andere war mit Cremebeeren gefüllt.
Auraya nahm die rituellen Begrüßungsgaben entgegen.
»Ich habe deine Nachricht erhalten, Sprecher«, sagte sie zu Tyrli. »Wo habt ihr das Schiff gesehen?«
Er deutete nach Südosten. »Man konnte es nur aus der Luft sehen. Die Segel waren mit einem Stern gekennzeichnet. Meine Männer sind hinübergeflogen und haben pentadrianische Zauberer an Bord entdeckt.«
Auraya nickte. »Ist das Schiff seither noch einmal gesehen worden?«
»Nein.« Sie erblickte in seinem Geist das Bild eines unbehaarten, dunkelhäutigen Kindes. Ein Elai-Mädchen. Er befürchtete, dass es auf die Pentadrianer gestoßen sein könnte, obwohl das recht unwahrscheinlich war. Auraya bezähmte ihre Neugier; es gab wichtigere Dinge, um die sie sich kümmern musste.
»Ist jemand dem Schiff gefolgt?«, fragte sie.
Er nickte. »In einiger Entfernung und nur so weit, wie keine Gefahr drohte. Es ist nach Südosten gesegelt, weit hinaus aufs Meer. Nach Borra.«
»Sind die Pentadrianer nicht an Land gegangen?«
»Nein. Droht den Elai Gefahr?«
Auraya schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle es. Die Elai stellen keine Bedrohung für sie dar, und sie sind zu gering an Zahl, um für die Pentadrianer als Verbündete interessant zu sein. Vielleicht werden sie versuchen, sie zu bekehren, aber die Elai sind von Huan erschaffen worden. Ich glaube nicht, dass sie sich von ihr abwenden werden.«
Tyrli nickte zustimmend.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Pentadrianer es nicht versuchen werden, dachte sie und erinnerte sich daran, dass Juran ihr von Pentadrianern erzählt hatte, die versuchten, sich in anderen Ländern niederzulassen. Sie seufzte. »Ich sollte dieses Problem mit Juran erörtern.«
Der Sprecher lächelte. »Komm in meine Laube. Meine Tochter wird dafür sorgen, dass du dort ungestört bist.«
Auraya zögerte kurz, dann nickte sie. »Natürlich.« Er wusste nicht, warum es ihr widerstrebte, sich mit den anderen Weißen in Verbindung zu setzen.
Ich kann es nicht bis in alle Ewigkeit vermeiden, sagte sie sich.
Als sie in Tyrlis Laube ankam, hatte sie sich innerlich auf die Auseinandersetzung vorbereitet, die nur unangenehm ausfallen konnte. Tyrlis Tochter brachte Wasser und einen größeren Teller mit Essen, dann ließ sie Auraya allein.
Die Wände der Laube leuchteten in dem Sonnenlicht, das durch die Membran fiel. Auraya holte tief Luft, schloss die Augen und sandte ihren Geist aus.
Juran?
Es folgte eine Pause, dann:
Auraya. Wo bist du?
An der Küste von Si. Der Sandstamm hat mir berichtet, dass vor einigen Tagen ein pentadrianisches Schiff hier in der Gegend gesichtet wurde.
Sind die Pentadrianer an Land gegangen?
Nein. Die Siyee sagen, das Schiff sei nach Südosten gesegelt, nach Borra.
Was könnten die Pentadrianer von den Elai wollen?
Ich weiß es nicht. Sie haben keinen Grund, sie anzugreifen, und es ist unwahrscheinlich, dass die Elai etwaigen Freundschaftsangeboten gewogen sein werden. Wir wissen ja, wie misstrauisch sie Landgehern gegenüber sind.
Ja.
Soll ich der Sache nachgehen?
Juran schwieg mehrere Herzschläge lang.
Nein. Wie gut erholen sich die Siyee von der Herzzehre?
Die Krankheit hat sich auf alle Stämme ausgedehnt, bis auf diejenigen, die in den entlegensten Gebieten leben. Die Situation kann nicht mehr viel schlimmer werden.
Er zögerte abermals.
Wie sehen deine Pläne in Bezug auf Mirar aus?
Auraya wurde eng ums Herz.
Ich kann ihn nicht töten, wenn ich glaube, dass er es nicht verdient hat.
Nicht einmal dann, wenn die Götter es dir befehlen?
Sie antwortete nicht sofort.
Nein. Es lässt alles, wofür sie stehen – alles, wofür wir stehen -, wertlos erscheinen.
Ein langes Schweigen folgte.
Dyara und Rian brechen heute nach Si auf. Wenn sie Mirar töten, wirst du dann das Gefühl haben, dass sie alles, wofür wir stehen, wertlos gemacht haben?
Bei der Frage krampfte ihr Magen sich zusammen.
Möglicherweise. Ich weiß nicht…
Ich habe Mirar vor hundert Jahren hingerichtet, und mir lagen damals genauso wenig Beweise vor wie dir heute. Hat dein Wissen um meine Tat mich in deinen Augen herabgesetzt?
Diese Frage konnte sie nicht beantworten. Wenn sie es abgestritten hätte, wäre sie unaufrichtig gewesen, andererseits hatte sie noch immer großen Respekt vor ihm.
Unsere jeweiligen Situationen sind nicht vergleichbar, sagte sie. Mirar hat dir seinen Geist nicht geöffnet. Als du Mirar gegenüberstandest, hatten die Götter gerade erst damit begonnen, die Gesetze zu schaffen, nach denen wir leben. Die Gesetze und Prinzipien, die zu brechen sie von mir verlangen.
Sie haben mich gebeten, ihnen zu vertrauen. Vertraust du ihnen? Vielleicht nicht mehr in dem Maße, wie ich es früher getan habe, gestand sie. Ich kann nicht dagegen an. Als sie mich gebeten haben, etwas Unrechtes zu tun, habe ich das Vertrauen verloren, dass sie etwas Derartiges niemals von mir verlangen würden. Ein Anflug bitterer Erheiterung stieg in ihr auf. Wenn ich Mirar töte, werde ich mich dafür hassen und bis in alle Ewigkeit die Weisheit der Götter in Zweifel ziehen.
Ich fürchte, dass du die Weisheit der Götter ohnehin in Zweifel ziehen wirst.
Ein kalter Stich des Begreifens durchzuckte sie. Er hatte recht. Es gab kein Zurück mehr. Sie hatte ein wenig von ihrem Respekt vor den Göttern verloren und konnte nicht so tun, als sei nichts geschehen. Ich bin eine Weiße. Eine Weiße sollte nicht an den Göttern zweifeln, denen sie dient! Wenn ich meinen Respekt für sie nicht wiederfinden kann, dann… Sie schauderte. Dann sollte ich nicht länger eine Weiße sein.
Auraya?
Ihr Mund war trocken. Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf Juran zu richten.
Was soll ich tun? Soll ich nach Jarime zurückkehren?
Nein. Bleib in Si. Es hat keinen Sinn, dass du hierher zurückkommst, während dich das Himmelsvolk noch immer braucht.
Er brach die Verbindung ab. Auraya schlug die Augen auf, und sofort kamen ihr die Tränen. Sie hatte sich niemals etwas anderes gewünscht, als Priesterin zu sein und ihre Gaben zu benutzen, um Menschen zu helfen. Um den großartigen Wesen zu dienen, die die Götter waren.
Die Götter, die ich liebe, dachte sie. Aber nicht mehr mit ganzem Herzen, wie ich es früher getan habe. Diese Liebe ist besudelt worden. Zerstört. Vielleicht hätte meine Liebe robuster sein sollen. Vielleicht hätte ich wie Rian sein sollen, bereit, in ihrem Namen alles zu tun, ob es nun falsch oder richtig ist. Bin ich eigensüchtig? Spielt es eine Rolle, ob ich das, was ich tue, für richtig halte?
Aber es musste eine Rolle spielen, dass es den Weißen wichtig war, ob ihre Taten richtig oder falsch waren. Alles andere wäre erschreckend gewesen. Und es spielte in der Tat eine Rolle, dass die Götter gut und gerecht waren. Anderenfalls … zu welchen anderen Arten des Machtmissbrauchs konnten die Götter die Weißen noch heranziehen?