Wenn Mirar recht hat und die Götter schon viele Male ihre Macht missbraucht haben, was sollte sie daran hindern, es wieder zu tun? Was ist, wenn die Götter die Zirkler und die Weißen geschaffen haben, um in der Welt ungehindert zu tun, was immer sie wollen?
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Es war zu beängstigend, um es auch nur in Erwägung zu ziehen. Wenn die Absichten der Götter böse waren, wohin führte das dann die Menschen?
Sie waren ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Der sicherste Weg für sie war der, sich ihre Gunst zu erhalten – Mirar zu töten und eine gehorsame Dienerin zu sein. Sie sollte so treu ergeben sein wie Rian, nur dass ihr Gehorsam dann auf Furcht fußen würde, nicht auf Liebe oder Ergebenheit.
Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit. Wenn sie in einem Zustand stetiger Angst und permanenter Lügen lebte und zu Dingen gezwungen wurde, die sie für Unrecht hielt, konnte das nur zu Unglück führen. Zu einer Ewigkeit voller Unglück.
So weit wird es vielleicht nicht kommen, überlegte sie. Nein. Die Götter sind nicht böse. Sie wollen Mirars Tod, weil sie befürchten, dass er Sterblichen Schaden zufügen wird. Sie sind zu weit entfernt, um zu begreifen, dass er keine Gefahr mehr darstellt. Ich bin näher am Geschehen. Ich habe in seinen Geist geblickt. Ich weiß es besser.
Aber wie konnte das sein? Die Götter waren angeblich weiser als die Menschen. Wenn sie glaubte, dass sie irrten, dann musste sie es für möglich halten, dass sie Fehler machen konnten. Eine Weiße sollte nicht an den Göttern zweifeln. Sie stützte den Kopf in die Hände und sah einer simplen Wahrheit ins Auge. Ich bin dieser Position nicht würdig.
Die Seeleute huschten über das Deck der Pfeil, als hinge ihr Leben davon ab, dass sie ihre Arbeit so schnell wie möglich verrichteten. Rian blickte zur Stern hinüber. Die Mannschaft auf dem anderen Schiff war ebenso geschäftig. Dyara stand am Bug. Obwohl die beiden Schiffe gemeinsam segeln würden, würde er sich während der nächsten Wochen nur durch Gedankenrede mit ihr verständigen.
Schritte hallten über das Deck. Rian drehte sich um und sah Juran näher kommen.
»Rian«, sagte er. »Hast du alles, was du brauchst?«
»Ja«, antwortete Rian.
Juran hielt inne, als ein junger Priester, der eine hölzerne Kiste trug, an Bord eilte. Der Mann näherte sich ihnen nervös, stellte die Kiste auf das Deck und machte dann das Zeichen des Kreises.
»Die Kopien, um die du gebeten hast, Rian von den Weißen.«
»Danke«, erwiderte Rian. »Du darfst wieder gehen.«
»Also, was sollten die Schreiber, von denen du verlangt hast, dass sie die ganze Nacht hindurch aufbleiben, für dich kopieren?«, erkundigte sich Juran.
»Den sennonischen Gesetzeskodex, einige historische Unterlagen über frühere Kaiser und Studien über die vielen hier praktizierten Kulte, die ich in Auftrag gegeben habe. Ich werde Lektüre für die Reise benötigen und wollte es nicht riskieren, Originale mitzunehmen.«
Juran lachte leise. »Ich denke nicht, dass du auf dem Weg nach Si Zeit zum Lesen finden wirst, da du dich darauf konzentrieren musst, das Schiff durch das Wasser zu bewegen.«
Rian zuckte die Achseln. »Das mag sein, aber sobald wir die Sache mit Mirar erledigt haben, werden wir vielleicht in gemächlicherem Tempo zurückkehren.«
Ein grimmiger, gequälter Ausdruck trat in die Züge des Anführers der Weißen. Rian hatte diesen Ausdruck schon früher gesehen. Er erschien, wann immer Mirars Name ausgesprochen wurde. Rian hatte schon vor langer Zeit geahnt, dass die Ermordung Mirars für Juran sehr unangenehm gewesen sein musste. Es war gewiss schwierig für ihn gewesen, herausfinden zu müssen, dass der Traumweber damals nicht gestorben war und nun von neuem Sterbliche manipulierte. Und Unsterbliche. Je eher er und Dyara die Welt von Mirar befreiten, umso besser – für Juran ebenso wie für die Welt. Es war jedoch sinnlos, darüber zu reden, und würde Juran nur noch mehr belasten.
»Ich glaube langsam, dass es Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte dauern wird, bis wir Sennon unter unseren Schutz gebracht haben«, sagte Rian und lenkte das Thema wieder auf das ferne Land zurück. »Diese Menschen beten alles nur Erdenkliche an. Hast du schon von diesem neuen Kult um den Schöpfer gehört?«
Juran zog die Augenbrauen hoch. »Nein.«
»Der Kult gründet auf der Vorstellung, dass die Welt und sogar die Götter von irgendeinem höheren Wesen zu irgendeinem größeren Zweck erschaffen wurden. Dieses Wesen ist bekannt als der Schöpfer. Der Mann, der die Religion anführt, bietet keine greifbaren Beweise für seine These an, sondern benutzt eine verzerrte Logik, um die Menschen von der Wahrheit seiner Behauptungen zu überzeugen. Der Kult ist bisher nur klein, wächst jedoch mit bestürzender Geschwindigkeit.«
»Das tun neue Kulte immer. Die Begeisterung ihrer Anhänger verblasst, sobald sie begreifen, dass sie keinen Vorteil von einem nicht existierenden Gott haben – erst recht nicht, wenn der Tod nahe ist.«
»Ja.« Rian rümpfte angewidert die Nase. »So wenige von ihnen huldigen ihrer Religion lediglich aus Ehrfurcht oder Respekt. Immer erwarten sie eine Gegenleistung.«
Juran lächelte. »Wenn Ehrfurcht und Respekt alles wären, was benötigt würde, könnte man diesen Schöpfer ebenso gut anbeten wie die wahren Götter.«
Rian schüttelte den Kopf. »Ich würde immer noch einen Beweis für seine Existenz verlangen.«
Jurans Blick war mit einem Mal schärfer geworden. »Und für seine Güte? Was würdest du tun, wenn er etwas von dir erwartete, was du für Unrecht hältst?«
Rian lehnte sich an die Reling und unterdrückte ein Lächeln. Hierbei ging es um Auraya, vermutete er. »Keine Aufgabe ist unrecht, wenn die Götter sie von uns verlangen.«
»Selbst wenn sie den Gesetzen und Prinzipien widerspräche, die zu befolgen sie uns ermutigt haben?«
»Sie müssen ihre Gründe dafür haben, wenn sie sich selbst widersprechen. Es gibt immer Umstände, unter denen Gesetze flexibel gehandhabt werden dürfen.«
»Und was ist, wenn dies keiner dieser Umstände wäre?«
»Dann würde ich daraus den Schluss ziehen, dass ich die wahren Umstände nicht kenne. Wenn die Götter keinen Grund angeben, warum sie gegen ihr Gesetz verstoßen, muss ich zu dem Schluss kommen, dass sie es nicht können. Ich würde darauf vertrauen, dass ihre Entscheidung die richtige ist.«
Juran runzelte die Stirn und rieb sich das Kinn. »Du würdest also nicht von ihnen verlangen, dass sie dir ihre Gründe zur Gänze offenbaren?«
»Nein.«
Rian beobachtete, wie Juran mit den Fingern auf seinen Arm trommelte und nachdenklich dreinblickte. Von den vier Weißen war Juran der Einzige, der religiöse Debatten schätzte. Dyara hatte nicht die Geduld für das, was sie »fruchtlose Spekulation« nannte, und bei den wenigen Gelegenheiten, da Rian versucht hatte, Mairae in ein solches Gespräch zu ziehen, hatte sie sich anscheinend unwohl gefühlt. Er hatte sich nicht darum bemüht, mit Auraya zu reden. Obwohl sich in der Vergangenheit einige Male die Gelegenheit geboten hätte, hatte er sie jedes Mal verstreichen lassen. Sie machte keineswegs den Eindruck, dass sie nicht interessiert sei – ganz im Gegenteil. Aber er argwöhnte, dass er sich ihren Meinungen nicht würde anschließen können.
»Haben die Götter jemals eine Entscheidung getroffen, mit der du nicht einverstanden warst, die du aber akzeptiert hast, nur weil du auf ihre Weisheit vertraust?«, fragte Juran langsam.
Rians Herz setzte einen Schlag aus. Sollte er das zugeben? Bevor er sich entscheiden konnte, lächelte Juran.
»Ich denke, dein Zögern lässt darauf schließen, dass etwas Derartiges schon geschehen ist.«
Rian nickte knapp. »Aber ich habe später die Weisheit ihrer Entscheidung begriffen.«
Jurans Augen wurden schmal. »Und du möchtest mir nicht erzählen, um was für eine Entscheidung es sich gehandelt hat.«