Sie hoben die Truhe mit Geschenken von Nekaun aus dem Boot und trugen sie herbei. Imenjas Behauptung, diese Dinge gehörten Imi, entlockten Reivan ein Lächeln. Wenn Imenja dem König erzählt hätte, dass sie für ihn bestimmt waren, hätte er ihre Gaben ohne weiteres ablehnen können. Jetzt konnte er das nicht. Die Ruderer traten in den Kreis der Krieger und stellten die Truhe vor den König hin. Einer entriegelte den Deckel und öffnete ihn, dann verneigten sie sich alle vor dem König und zogen sich zum Boot zurück.
Die Augenbrauen des Elai-Königs hoben sich abermals, als er den Inhalt der Truhe sah.
»Dies alles gehört meiner Tochter?«
Imenja lächelte. »Geschenke vom Anführer meines Volkes, der Ersten Stimme Nekaun. Es ist eine Sitte meines Landes, dass Gäste von königlichem Geblüt Geschenke erhalten. In Imis Fall war es uns eine besondere Freude, diesem Brauch Folge zu leisten. Und obwohl mein Volk nicht die Schuld an Imis Entführung trägt, hat sie doch einige Zeit als unfreiwillige Gefangene in unserem Land verbracht. Dafür, fand Nekaun, sollte sie eine Entschädigung erhalten.«
König Ais nickte, den Blick noch immer auf den Inhalt der Truhe geheftet. In seinen Zügen stand ein nachdenklicher Ausdruck. Er sah zu Imenja auf.
»In meinem Land wird eine gute Tat belohnt. Bringt meine Geschenke eurem Anführer und gebt sie ihm mit meinem Dank.«
Sie lächelte. »Das werde ich tun, und auch ich will in seinem Namen Dank sagen. Er wird ebenso beeindruckt von den Fähigkeiten eurer Handwerker sein wie ich.«
Imenja winkte abermals die Ruderer heran und befahl ihnen, die Schätze der Elai zusammenzupacken und zurück zum Boot zu tragen. Als die Männer gegangen waren, wandte sie sich wieder dem König zu.
»Imi hat mir von den Plünderern erzählt, die euch solche Schwierigkeiten machen. Ich würde euch unsere Hilfe anbieten, wenn ich glaubte, ihr würdet sie annehmen.«
»Wie könntet ihr uns helfen?«
»Vielleicht indem wir euch lehren, was wir über Zauberei, Kriegskunst oder die Erbauung befestigter Dörfer wissen. Vielleicht auch indem wir euch Waffen verkaufen.«
»Welchen Gewinn werdet ihr daraus ziehen?«
»Diese Plünderer lauern Handelsschiffen auf, die zwischen Nordithania und meinen Ländern verkehren. Unsere Kaufleute erleiden durch sie große Verluste. Die Einrichtung einer kleinen Flotte zu ihrer Abwehr wäre unmöglich und teuer, selbst wenn es einen geeigneten Hafen als Stützpunkt gäbe. Wenn dein Volk stark genug würde, um sich zu verteidigen, würdet ihr irgendwann vielleicht zu einer Streitmacht, die uns helfen könnte, diese Plünderer zu kontrollieren. Ich weiß, dass unsere Händler eine beträchtliche Gebühr für einen solchen Dienst bezahlen würden.«
Der König musterte sie skeptisch. »Das sagst du. Wahrscheinlicher ist es, dass sie uns berauben werden.«
Imenja nickte. »Es ist weise von dir, eine solche Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Die Gefahr, mit Plünderern verwechselt zu werden, würde dazu führen, dass die meisten Kaufleute ehrlich bleiben, aber bei einem solchen Unternehmen müsstet ihr sowohl vorsichtig als auch klug zu Werke gehen.«
»Oder uns erst gar nicht darauf einlassen.« Er reckte das Kinn vor. »Ich danke dir, dass du meine Tochter zurückgebracht hast, Imenja von den Pentadrianern. Ihr müsst vor Mittag abreisen.«
»Dann werden wir das selbstverständlich tun«, erwiderte Imenja. »Solltest du irgendwann in der Zukunft den Wunsch haben zu verhandeln, halte Ausschau nach einem Schiff mit schwarzen Segeln. An Bord wird ein Diener der Götter sein, der ebenso gekleidet ist wie ich, und er wird mir eine Nachricht überbringen.«
Sie drehte sich um und ging davon. Reivan folgte ihr, wobei sie der Versuchung widerstand, sich noch einmal umzudrehen und den Gesichtsausdruck des Königs zu betrachten. Er runzelt wahrscheinlich noch immer die Stirn und reckt die Brust vor, dachte sie.
Das ist gar nicht so schlecht gelaufen, nicht wahr?, fragte Imenja.
Reivan sah ihre Herrin an.
Ich weiß nicht. Was hast du in seinen Gedanken gelesen?
Argwohn größtenteils. Er misstraut allen Landgehern.
Selbst jenen, die seine Tochter gerettet und zurückgebracht haben?
Ganz besonders uns. Misstrauen ist seine Stärke. Aber ich weiß auch, was seine Schwäche ist.
Was?
Seine Tochter. Er macht sich Vorwürfe wegen ihrer Entführung. Sie hat mehr von der Welt gesehen, als er es sich jemals vorstellen könnte, und sie ist jetzt besser informiert als er. Er ist hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühlen, seiner alten Gewohnheit, sie zu verwöhnen, und der Erkenntnis, dass sie nie wieder damit zufrieden sein wird, in der Stadt eingepfercht zu sein. Alles in allem kämpft er eine ziemliche Schlacht aus.
Eine Schlacht, die er verlieren wird?
Imenja lächelte.
Ich zähle darauf.
Die Stadt Karienne sah noch in etwa so aus wie bei Emerahls letztem Besuch. Gebäude aller Größen und Formen bildeten zu beiden Seiten eines bescheidenen, schmutzigen Flusses eine weitverzweigte Metropole. Die Stadt hatte sich allerdings im Laufe der letzten Jahrhunderte auf fast das Doppelte der Fläche ausgedehnt, falls sie das von ihrem Platz auf dem Wasser aus beurteilen konnte.
»Wo wollt ihr von Bord gehen?«, fragte Emerahl und wandte sich zu dem Paar und seinen Kindern um.
Shalina sah ihren Mann an.
»Wirst du nicht am Hauptkai anlegen?«, fragte Tarsheni.
»Das könnte ich tun, aber das würde mich wahrscheinlich eine deftige Anlegegebühr kosten. Diese kleinen Piers sind im Allgemeinen weniger teuer.«
»Soweit ich mich erinnere, liegt der Hauptkai in der Nähe des Großen Platzes, wo der weise Mann spricht, und wir würden gern in der Nähe des Platzes von Bord gehen, falls das möglich wäre. Wenn wir deine Anlegegebühr bezahlen, wirst du dann mit uns kommen, um ihn sprechen zu hören?«
Emerahl überlegte. Ein Teil von ihr brannte darauf, so schnell wie möglich den Fluss hinauf zu den Roten Höhlen zu segeln, aber ein anderer Teil war neugierig darauf, diesen weisen Mann zu sehen. Sie hatte Monate gebraucht, um hierherzukommen, was würde da eine Verzögerung von einem halben Tag schon ausmachen?
»Also gut«, sagte sie. »Ich werde mitkommen und mir anschauen, was es damit auf sich hat.«
Schon bald hatten sie das größte Hafenbecken erreicht und zwischen den überfüllten Piers und Kais eine Anlegestelle gefunden. Emerahl half dem Paar, seine Habe vom Boot und in die Stadt zu befördern. Die Straßen waren schmal, und viele waren überdacht, um die Wüstensonne auszusperren. Sie verliefen in alle Richtungen in einem Muster, das weder für sie noch für Tarsheni durchschaubar war. Wohnhäuser, Warenlager, Geschäfte, Tempel und Baracken standen Seite an Seite, aber niemals parallel zueinander, so dass alle Straßen unterschiedlich breit waren.
Glücklicherweise waren die Einheimischen freundlich und nur allzu gern bereit, ihnen den Weg zu beschreiben. Emerahl und die junge Familie gelangten schließlich durch eine enge, übervölkerte Straße auf einen offenen Platz.
Der Große Platz war im Vergleich zu einigen Plätzen in anderen Städten nicht allzu beeindruckend, wirkte aber nach dem Gedränge in den Straßen dennoch nicht allzu klein. In einer Ecke hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Tarshenis Augen leuchteten vor Erregung. Die jungen Leute fanden ein Gästehaus in der Nähe und handelten den Preis auf ein nur annähernd vernünftiges Niveau herunter, ungeduldig, endlich den Mann zu sehen, der sie zu einer so weiten Reise verlockt hatte.
Nachdem sie ihre Habe in einem Zimmer verstaut hatten, verließen sie das Gästehaus und gingen zu der Menschenmenge auf dem Platz hinüber. Den beiden Erwachsenen war ihre Spannung deutlich anzumerken. Ihr Sohn war lediglich überwältigt von all dem Treiben um ihn herum, und der Säugling blinzelte schläfrig.