Tarsheni drängte sich durch die Menge weiter nach vorn. Emerahl konnte das Ziel der Aufmerksamkeit nicht sehen, aber sie konnte den Mann deutlich hören.
»Wir sind alle vom Schöpfer gemacht«, donnerte er. »Du, ich, der Priester dort drüben, das Arem, das eure Waren zieht, und das Reyna, auf dem ihr reitet. Der Vogel, der singt, und das Insekt, das euch sticht, sind seine Schöpfungen. Der niedere Bettler, der erfolgreiche Kaufmann, die Könige und Kaiser dieser Welt, die Priester und Anhänger aller Götter, diejenigen, die Gaben besitzen, und die, die keine haben, alle sind seine Schöpfungen. Sogar die Götter selbst sind…«
Der Mann brach ab, und Emerahl hörte eine leisere Stimme.
»Nein!«, fuhr der weise Mann fort. »Das ist nicht wahr. Ich habe die Texte und die Weisheit aller Religionen studiert, und kein Gott hat je behauptet, die Welt erschaffen zu haben. Aber es muss einen Schöpfer geben…«
Emerahl konnte die nächste Frage beinahe verstehen. Sie beschloss, näher heranzugehen und die Familie, die mit verzückter Aufmerksamkeit lauschte, allein zu lassen.
»Die Existenz der Welt ist Beweis genug! Nur ein Wesen von höherer… ja, das ist richtig. Der Schöpfer hat auch die Kreaturen gemacht, die wir als böse erachten. Aber warum halten wir sie für böse? Weil sie töten? Ein Karmook tötet und frisst andere Lebewesen, und wir halten es dennoch als Haustier. Ein Reyna frisst Pflanzen. Auch sie sind lebendige Wesen. Wir fürchten die Leramer und die Worns, weil sie uns töten können, aber sie tun das nicht aus Bosheit, sondern aus Hunger. Wir verabscheuen sie, weil sie unser Vieh fressen. Das ist nicht böse, sondern nur lästig.«
Es folgte eine Pause, dann ein Kichern. Als die beiden Männer neben ihr ihr Gewicht verlagerten, erhaschte Emerahl unerwartet einen Blick auf einen gutaussehenden jungen Mann, der auf einer Holzkiste stand, die Arme erhoben, während er sich anschickte, abermals das Wort an die Menge zu richten. Sie stutzte, überrascht, dass der weise Mann so jung war, dann rückte sie noch weiter vor.
»… sind ebenfalls böse. Warum machen wir andere Menschen zu unseren Opfern? Ich weiß es nicht. Warum ist die Welt nicht vollkommen? Warum können wir nicht von Geburt an jeden Teil in dieser Welt begreifen? Offenkundig war das nicht die Absicht des Schöpfers. Der Schöpfer hat die Welt unbeständig gemacht. Vielleicht hat er das getan, damit wir einen Grund haben, nach etwas zu streben.«
Emerahl blieb stehen, als sie sah, dass sie sich einigen Priestern und Priesterinnen genähert hatte. In der Gruppe befand sich sogar ein Hohepriester. Während einige der Zirkler den Vortrag mit einem Stirnrunzeln verfolgten, hörten andere mit Interesse zu.
»Es ist mir zugefallen, danach zu streben, den Schöpfer zu verstehen«, fuhr der weise Mann fort. »Ihr alle seid willkommen, euch mir anzuschließen. Ich bitte euch nicht, alles aufzugeben. Weder eure Familie noch euren Reichtum, euren Beruf, eure Macht oder auch nur eure Religion. Glaubt an den Schöpfer, und gemeinsam werden wir – Mann und Frau, reich und arm, mit Gaben Gesegnete und solche, die keine Gaben besitzen – danach trachten, einige der Mysterien des Lebens aufzudecken.«
In derselben Art setzte er seinen Vortrag fort. Einige Zuhörer zogen weiter, und andere nahmen ihre Plätze ein, und langsam wiederholten sich die Fragen. Emerahl kehrte durch die Menge zu der Familie zurück. Sie sah, dass die Zirkler gegangen waren. Auch zwei Pentadrianer wandten sich jetzt von den Zuschauern ab. Ich sehe keine Traumweber, stellte sie fest. In Tarshenis Augen leuchtete noch immer große Erregung.
»Ich muss meine Tinte und meine Papiere holen«, flüsterte Tarsheni und wandte sich zu Emerahl um. »Was hältst du von dem Ganzen?«
Sie zuckte die Achseln. »Es ist eine interessante Vorstellung.«
»Das hast du schon einmal gesagt.«
»Ich habe auch gesagt, dass die meisten Menschen ihm keine allzu große Beachtung schenken würden, wenn er keine Beweise hat.«
»Ist die Existenz der Welt nicht genug?«
»Nein«, antwortete sie aufrichtig. »Ich glaube nicht, dass es den Zirklern gefällt, wenn jemand behauptet, ein höheres Wesen habe ihre Götter erschaffen.«
Tarsheni grinste. »Wen schert schon, was die Zirkler denken, wie?«
Emerahl lachte. »Wahrhaftig.« Sie sah die beiden Erwachsenen an, dann lächelte sie. »Ich schätze, es ist Zeit, dass wir uns verabschieden.«
»Es war eine Freude, mit dir zu reisen«, sagte Shalina mit Nachdruck.
»So habe ich es auch empfunden«, erwiderte Emerahl.
»Danke, dass du uns mitgenommen hast«, sagte Tarsheni ernst. »Und dass du uns im Tunnel der Landenge vor diesen Dieben gerettet hast.«
»Wenn ihr mir nicht von dem Tunnel erzählt hättet, hätte ich mein Boot verkaufen müssen«, bemerkte Emerahl. »Also stehe ich genauso in eurer Schuld wie ihr in meiner.«
Die beiden lachten leise. »Wohin wirst du jetzt fahren?«
»Flussaufwärts.«
»In einer Familienangelegenheit?«
»Man könnte es so betrachten. Ich hoffe genau wie ihr, jemanden zu treffen, von dem ich viel gehört habe, dem ich aber nie begegnet bin.«
»Dann wünsche ich dir, dass du mit deiner Begegnung ebenso zufrieden sein wirst wie wir mit unserer«, erwiderte Tarsheni. »Leb wohl, Emmea. Mögen die Winde dir gewogen sein.«
»Leb wohl«, antwortete Emerahl. »Und denk an meinen Rat. Wenn er anfängt, Geld von euch zu verlangen, gebt ihm keine Münze mehr, als ihr euch leisten könnt, ohne euch in Gefahr zu bringen. Ich bin schon früher falschen Weisen begegnet, und sie können sehr gerissen sein.«
»Wir werden vorsichtig sein.«
Emerahl wandte sich lächelnd von der Familie ab und kehrte zu den Docks und zu ihrem kleinen Boot zurück, um den letzten Teil ihrer Reise zu den Roten Höhlen zu beginnen.
43
Ausnahmsweise wünschte sich Auraya, sie hätte ins Offene Dorf fliegen können, ohne von einer ganzen Schar von Siyee willkommen geheißen zu werden. Ihre Ehrfurcht fühlte sich falsch an. Irregeleitet. Sie war ihrer nicht würdig.
Als sie landete, kam Sprecherin Sirri auf sie zu und bot ihr, wie die Tradition es verlangte, Wasser und Kuchen an. Aber bevor Auraya den Kuchen verzehren konnte, huschte etwas über den Boden und sprang ihr in die Arme, so dass sie die Wasserschale und den Kuchen fallen ließ.
»Unfug!«, rief sie. »Das war sehr unartig!« Der Veez zappelte vor Aufregung. Es war unmöglich, ihn überzeugend auszuschelten. Sie hatte ihn so lange nicht gesehen, und es tat plötzlich so gut, der Gegenstand schlichter, bedingungsloser Hingabe zu sein.
»Owaya zurück«, sagte er. »Owaya bleiben.«
»Ist ja gut, Unfug. Auraya bleiben. Jetzt – igitt! Lass das!« Sie sah eine rosafarbene Zunge in ihre Richtung zucken, aber es war zu spät, um der Zärtlichkeit des Tieres auszuweichen. Sie packte den Veez und hielt ihn auf Armeslänge von sich weg, um ihn daran zu hindern, weiter ihr Gesicht zu lecken, dann schaute sie an ihm vorbei und bemerkte, dass Sirri sich eine Hand vor den Mund hielt, um ihr Gelächter zu unterdrücken.
Auraya kicherte kläglich, dann sah sie sich überrascht um, als plötzlich von allen Seiten Gelächter erklang.
»Tut mir leid, Sprecherin Sirri«, sagte sie. »Ich habe in letzter Zeit seine Ausbildung vernachlässigt, und er hat eine Begabung dafür, neue schlechte Angewohnheiten zu entwickeln.«
»Ich glaube, das hat er von den Kindern gelernt«, erwiderte Sirri entschuldigend und ließ die Hand sinken, um ein breites Grinsen zu entblößen. »Sie lieben ihn abgöttisch.«
Unfug begann zu zappeln, plötzlich versessen darauf, wieder auf den Boden hinunterzukommen. Auraya ließ ihn los, stöhnte jedoch laut auf, als er sich auf ein Stück Kuchen stürzte. Daraufhin brachen die Siyee um sie herum erneut in Gelächter aus. Auraya verspürte eine Woge der Zuneigung zu ihnen. Statt über die Unterbrechung der Zeremonie gekränkt zu sein, konnten sie die Komik der Situation anerkennen.