»… Wette?«
»Ja. Zehn.«
»Zwanzig.«
»Zwanzig, wie? Gehe mit!«
»Und du?«
Ein Seufzen. »Ich bin draußen.«
»Mitgegangen, ja? Umdrehen.«
Ein triumphierendes Kichern erklang gleichzeitig mit einem Stöhnen, dann hörte Imi das leise Klimpern von Corrie-Muscheln, die zusammengestrichen wurden. Sie erkannte die Stimmen der Kaufleute, die sie belauscht hatte, und dazu noch die einiger anderer Männer. Sie spielten Winkel, vermutete sie.
Während der nächsten Runden bezogen sich die Bemerkungen der Händler einzig auf ihr Spiel, dann machten sie eine Pause, um einen späten Imbiss zu sich zu nehmen und Drai zu trinken. Ihr Gespräch wandte sich ihren Familien zu. Imi wartete geduldig, bis die Rede auf ihr Gewerbe kam.
»Gili sagt, er habe vor drei Tagen hinter der Insel Xiti Plünderer gesehen.«
»Das waren keine Plünderer«, mischte sich eine raue Stimme ein. »Das waren Taucher.«
Mehrere der Kaufleute fluchten.
»Ich wusste doch, dass wir nicht hätten warten dürfen.«
»Es war ein Glücksspiel, ein Risiko, das wir eingehen mussten. Es dauert seine Zeit, bis Seeglocken so groß werden.«
»Und die Landgeher brauchen erheblich weniger Zeit, um sie zu stehlen.«
»Magere, bleichhäutige Diebe!«
Imis Herz setzte einen Schlag aus. Also befanden sich die Seeglocken irgendwo in der Nähe von Xiti …
»Stehlen?« Der Mann mit dem unbefangenen Lachen stieß ein freudloses Kichern aus. »Man kann es wohl kaum stehlen nennen, wenn es um etwas geht, das niemandem gehört. Niemandem gehört etwas, das er nicht verteidigen kann. Wir können ja nicht mal unsere eigenen Inseln verteidigen.«
»Huan hat uns als Volk des Meeres geschaffen. Alle Schätze des Meeres gehören uns.«
»Warum bestraft die Göttin diese Taucher dann nicht? Warum bestraft sie die Plünderer nicht? Wenn sie alle Schätze des Ozeans für uns bestimmt hätte, würde sie die Landgeher daran hindern, sie zu stehlen, oder sie würde uns die Fähigkeit schenken, diese Plünderer aufzuhalten.«
»Huan will, dass wir für uns selbst sorgen.«
»Woher weißt du das?«
»Entweder ist es ihr Wille, dass die Dinge so sind, wie sie sind, oder wir haben irgendeinen Fehler gemacht.«
Imi seufzte verärgert. Hört auf, von den Göttern zu reden!, dachte sie. Sprecht lieber wieder über die Seeglocken. Aber das Gespräch zerfiel jetzt in zwei verschiedene Diskussionen.
»Wir hätten niemals zulassen dürfen, dass ein so großer Teil unserer Kenntnisse der Metallurgie verloren geht. Oder wir sollten mit dem Festland Handel treiben und unsere Waren gegen Schwerter eintauschen.«
»… ein einzelner Schwimmer könnte Erfolg haben, wo eine Gruppe scheitern würde. Die Ernte war gering, aber besser als…«
»Welchen Sinn hätte das? Sie würden im Wasser ohnehin verrosten…«
»… gefährlich. Was ist, wenn…«
»… muss sie nur richtig pflegen. Man braucht…«
»… einen guten Zeitpunkt wählen. Die richtigen Wetterbedingungen… schwerer zu erkennen unter dem…«
»… Oberfläche mit etwas bestreichen, das eine Zersetzung verhindert. Die Landgeher…«
»… werde bei schlechtem Wetter nicht tauchen.«
Imi drehte sich der Kopf vor lauter Anstrengung, die verschiedenen Gespräche auseinanderzuhalten. Das Problem war, dass sie beide hören wollte. Die Diskussion der Händler darüber, wie ein einzelner Elai es schaffen könnte, einige der Seeglocken zu ernten, war ungeheuer spannend, aber das Interesse der anderen Kaufleute, mit Landgehern Handel zu treiben, faszinierte sie nicht minder.
Ein fernes Klopfen erregte ihre Aufmerksamkeit. Widerstrebend löste sie sich von dem Rohr, dann schnürte sich ihr plötzlich die Kehle zu, als ihr klar wurde, dass sie Schritte hören konnte, die langsam näher kamen. Sie sprang von dem Rohr weg und in den Schrank hinein. Gerade als sie den Riegel vorschob, hörte sie, wie die Haupttür geöffnet wurde. Sie erstarrte.
Als sie zwischen den Schranktüren hindurchspähte, überlief sie ein Schauder der Furcht, denn sie erkannte die breiten Schultern des Mannes, der jetzt zu den Rohren hinüberschlenderte. Gleichzeitig konnte sie nicht umhin, voller Zuneigung zu lächeln. Ihr Vater summte vor sich hin. Sie kannte das Lied; es war eine sehr beliebte neue Melodie von Idi, dem schönen, neuen Oberhaupt der Palastsänger.
Ihr Vater beugte sich vor, um an dem Rohr zu lauschen, das in die Höhle der Sänger führte. Imi beobachtete ihn mit rasendem Herzen. Er war nur wenige Schritte entfernt. Einzig die Schranktüren trennten sie voneinander.
Einen Moment später richtete er sich auf, strich sein Wams glatt und verließ dann breitbeinig den Raum.
Imi stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und drehte sich um. Sie umfasste den Rahmen der Luke und schob sich in den Tunnel. Erst als sie am anderen Ende angelangt war, hörte ihr Herz auf zu hämmern.
Lautlos schlüpfte sie aus dem Tunnel, schob die Schnitzerei wieder an Ort und Stelle und ging auf Zehenspitzen zurück zu ihrem Teich. Mit vorsichtigen Bewegungen, damit kein Spritzen zu hören war, ließ sie sich ins Wasser gleiten, das sie sogleich mit tröstlicher Kühle umhüllte.
Jetzt weiß ich, wo die Seeglocken sind, dachte sie. Ich brauche nur noch eine Möglichkeit zu finden, Teiti und meinen Wachen zu entkommen und mich aus der Stadt zu stehlen. Es gibt nur zwei Wege aus der Stadt hinaus: die Treppe zum Ausguck und den Hauptteich… Wann habe ich eigentlich beschlossen, selbst hinzuschwimmen, statt jemand anderen auszuschicken?
Erst am nächsten Morgen stellte sie sich die Frage, warum ihr Vater die Sänger belauscht hatte.
5
Das alte Lagerhaus war voller verlockender Düfte. Es roch nach hölzernen Schiffstruhen und Stroh, einer Vielzahl von Waren, die hier gelagert hatten, und einer salzigen Meeresbrise, die von den nur wenige Straßen entfernt gelegenen Docks herbeiwehte.
In einem Raum überlagerte das durchdringende Aroma von Hroomya, der Farbe, die einen intensiven Blauton hervorrief, alle übrigen Gerüche. In einem anderen herrschte der warme Duft von geöltem Leder vor. Ein weiterer Raum war wie von einem starken Parfüm getränkt, während der fleckige Boden des nächsten wie ein Weinhaus stank. Waren aus allen Ländern Nordithanias hatten hier ihre Duftspuren hinterlassen, von Orten, die Auraya nie zu Gesicht bekommen hatte.
Ein Klopfen riss sie aus ihrem Tagtraum. Als ihr bewusst wurde, dass sie den Flur weit hinuntergegangen war, wandte sie sich hastig um und ging zurück in die Halle, in der der ehemalige Besitzer seine Geschäfte mit den Kunden abgewickelt hatte. Bin ich wirklich bereit, das zu tun?
Sie holte tief Luft und zwang sich, auf die Haupttüren zuzugehen.
So bereit, wie ich es nur jemals sein werde, sagte sie sich. Ich kann lediglich versuchen, alle weniger angenehmen Konsequenzen so gering wie möglich zu halten.
Als sie an den schweren Holztüren angelangt war, straffte sie die Schultern. Sie legte die Hände auf die Griffe und zog sie nach innen. Die Tür schwang mit einem befriedigend lauten Knarren auf. Auraya begrüßte die in Traumweberroben gekleidete Frau, die vor ihr stand.
Raeli, die Traumweberratgeberin der Weißen, warf Auraya einen wachsamen Blick zu. Sie hatte nie versucht, ihr Misstrauen den Weißen gegenüber zu verbergen, aber sie hatte sich immer zugänglich gezeigt. Auraya las in den Gedanken der Frau, dass dieser seltsame Treffpunkt sie gleichzeitig mit Neugier und Argwohn erfüllte.
»Komm herein, Traumweberratgeberin Raeli«, sagte Auraya und bedeutete der Frau, einzutreten.