Er rief nach ihr und spürte, wie sie vom Schlaf in den Traum glitt.
Mirar?
Ich bin hier. Zeig mir den Traum.
Ah. Ja. Der Turmtraum. Wie fängt er an…?
Der Weiße Turm erschien. Er ragte über ihr beziehungsweise ihm auf, ebenso wie das Gefühl drohender Gefahr.
Bist du während der letzten hundert Jahre irgendwann in Jarime gewesen?, fragte er sehr sanft und leise, um ihre Erinnerung nicht zu stören. Hast du den Weißen Turm gesehen?
Nein.
Das war interessant. Dass sie so genau von etwas träumte, das sie nie gesehen hatte… aber andererseits glaubte sie auch nicht, dass dies ihr eigener Traum war.
Der Traum war nicht so genau, wie es zuerst den Anschein hatte. Wolken wurden durchschnitten, als sie über den Turm hinwegglitten, und der Turm selbst war höher als in Wirklichkeit. Mirar spürte, wie die Traumangst über ihm zusammenschlug. Der Drang zu fliehen, aber auch die Lähmung der Faszination. Der Träumer wollte zusehen. Wollte alles sehen, obwohl es gefährlich war. Wenn er zu lange blieb, würden sie den Träumer sehen. Herausfinden, wer er war.
»Sie«? Wer waren »sie«?
Der Turm schien sich zu neigen. Risse wurden sichtbar. Es war zu spät, um wegzulaufen, aber er versuchte es trotzdem. Als er sich umdrehte, sah er riesige Ziegelsteine auf sich zu fallen.
Warum bin ich nicht früher weggelaufen? Warum bin ich nicht zur Seite gelaufen, so dass der Turm mich nicht treffen konnte?
Die Welt um ihn herum stürzte ein. Der Lärm war ohrenbetäubend. Er spürte, wie sein Körper bedeckt wurde. Zerschmettert. Knochen barsten. Fleisch wurde zerquetscht. Sein Oberkörper explodierte unter einer ungeheuren Last. Die Lunge brannte, während er langsam erstickte. Kein Atem, um aufzuschreien. Nicht einmal genug, um dem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Er kämpfte gegen eine Taubheit, die in seinen Geist kroch. Er versuchte, nach Magie zu greifen, konnte aber keine finden. Der Raum um ihn herum war erschöpft, alle Magie darin verbraucht. Trotz dieses Wissens griff er weiter aus, spürte ein winziges Rinnsal von Magie und zog es an sich. Benutzte es, um seinen Kopf, seinen Geist und seine Gedanken zu schützen.
Es ist nicht genug.
Nicht genug Magie, um seinen Körper wieder instand zu setzen. Nicht einmal genug, um die Trümmer des Traumweberhauses, die sich über ihm auftürmten, anzuheben. Eindeutig nicht genug, um noch einmal Juran gegenüberzutreten, was er würde tun müssen, wenn es ihm gelang, sich zu befreien.
Ich könnte einfach nachgeben. Mich sterben lassen. In einem Punkt hat Juran recht. Es beginnt ein neues Zeitalter. Vielleicht gibt es tatsächlich keinen Platz mehr für mich darin, wie er behauptet.
Aber was war mit den Traumwebern?
Ich bin ihnen jetzt nicht mehr von Nutzen. Indem ich mich den Plänen der Götter widersetzt habe, habe ich nichts anderes bewerkstelligt, als die Traumweber zu einem Feind des Volkes zu machen statt zu einem Teil dieser neuen Gesellschaft. Nichts währt ewig. Vielleicht ist auch für den Traumweberkult das Ende gekommen. Ich kann jetzt nichts mehr für sie tun. Wenn ich mich nicht einmal selbst retten kann, wie könnte ich dann sie retten?
Er spürte, wie das wenige an Magie, das er besaß, zusammenschmolz, dennoch griff er abermals aus und reckte sich weiter, als er es je zuvor getan hatte. Wenn er genug Magie in sich hineinziehen konnte, würde er vielleicht überleben. Es war nur eine Frage der sorgsamen Nutzung dieser Magie. Es war nicht notwendig, Knochen neu zusammenzufügen oder Fleisch zu heilen. Er brauchte lediglich die Grundfunktionen aufrechtzuerhalten. Hier, unter den Trümmern, gab es weder Wasser noch Nahrung. Er musste seinen Körper verlangsamen, bis er nur noch mit knapper Not lebendig war. Es war nicht notwendig zu denken, er musste nur die Substanz seines Geistes so weit erhalten, dass er weiterhin Magie in sich hineinzog und auf sein Ziel richtete.
Wenn er nichts dachte, würden die Götter ihn nicht sehen. Würden nicht wissen, was er tat. Würden nicht wissen, ob er überlebte.
Aber sie würden es erfahren, sobald er sich erholt hatte. Sie brauchten nur seine Gedanken zu lesen.
Sie dürfen nicht mich sehen. Sie sollen einen anderen sehen. Einen, der niemals eine Bedrohung für sie darstellen wird. Ich werde zu einem anderen werden, bis… nun, so lange, wie es mir möglich ist, oder… bis ich sterbe.
Langsam ließ er sich in die Dunkelheit hinabsinken.
Mirar!
Die Dunkelheit zuckte zurück wie ein erschrockenes Reyna. Befreit von dem Traum, erinnerte er sich daran, wo er war und was er tat, und das, was der Traum bedeutete, überrollte ihn.
Emerahl. Du hattest recht. Ich erinnere mich.
Ich habe es gesehen, antwortete sie. Du bist der wahre Besitzer deines Körpers. Der Weiße Turm war ein Symbol, das für Jurans Angriff auf dich stand. Du hast ihn an die Stelle des Traumweberhauses gesetzt, unter dem du begraben worden bist. Du, Mirar.
Ehrfurcht und Erstaunen über das, was er getan hatte, erfüllten ihn.
Es hat funktioniert. Ich habe überlebt. Ich habe Leiard erschaffen, um die Götter daran zu hindern, mich zu sehen, und es hat funktioniert. Ich bin in ihren Tempel gegangen, habe das Bett mit ihrer Priesterin geteilt, und sie haben mich nicht erkannt.
Du hast deine Identität verloren, entgegnete sie entsetzt. Du hättest genauso gut tot sein können.
Aber jetzt habe ich meine Identität wiedergefunden.
Ein Glück für dich, dass du einen sicheren Ort gefunden hast, um das zu tun – und dass ich überlebt habe, um dich zu lehren, wie du deine Gedanken verbergen kannst.
Ja, und um mir zu helfen, mich zu erinnern. Ich danke dir, Emerahl.
Ich bezweifle, dass Leiard mir danken wird.
Leiard? Er ist keine reale Person.
Er ist zu einer geworden.
Ja, stimmte Mirar ihr widerstrebend zu. Er hatte hundert Jahre Zeit, das zu tun. Zumindest kennt er jetzt die Wahrheit. Kein Wunder, dass wir ständig im Widerstreit miteinander lagen. Ich habe ihn in vielen Punkten zum Gegenteil dessen gemacht, was ich bin, um meine Tarnung zu stärken.
Eines wüsste ich gern… existiert er noch? Sollten wir aufwachen, damit ich versuchen kann, ihn herbeizurufen?
Nein, antwortete Mirar. Noch nicht. Ich muss über vieles nachdenken. Ich spüre, dass auch andere Erinnerungen zurückkommen.
Dann morgen.
Ja. Morgen. Mirar drängte ein wachsendes Gefühl der Furcht beiseite. Was würde er tun, wenn Leiard noch immer in seinem Geist war? Was konnte er tun?
Gute Nacht, sagte Emerahl schläfrig.
Gute Nacht, erwiderte er.
Ihre Traumvernetzung brach ab. Wieder allein, ließ Mirar sich in Träume und Erinnerungen gleiten. Sie waren nicht alle angenehm, aber die meisten von ihnen waren voller Wahrheiten, die er ein Jahrhundert lang vergessen hatte.
10
Emerahl stand früh auf und machte sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Während sie Wurzeln ausgrub und Früchte und Nüsse von den Bäumen pflückte, dachte sie über die Offenbarungen der vergangenen Nacht nach. Was Mirar getan hatte, war wahrhaft außergewöhnlich. Sie wollte wissen, wie er in seinem zerbrochenen Körper überlebt hatte, und sie wollte erfahren, wie er Leiard geschaffen und seine eigene Identität begraben hatte. War Leiard noch immer in seinem Geist? Konnte er vorübergehend wieder zu Leiard werden, wenn er wusste, dass die Götter ihn beobachteten?