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»Aber woher soll ich wissen, wem ich vertrauen kann?«

»Ich werde es dir sagen, wenn jemand nicht vertrauenswürdig ist, und wenn ich es nicht tue, wirst du es bald selbst herausfinden. Ich werde dir niemals die Schuld für die Fehler anderer geben.«

»Und wenn es sich um eine Aufgabe handelt, die niemand übernehmen will?«

Imenja hatte gelacht. »Ich denke, du wirst jede Menge Götterdiener finden, die darauf brennen, dir zu helfen. Genau wie du sind sie hier, um den Göttern zu dienen.«

»Willst du damit sagen, dass ich die Menschen mit Arbeit belohnen kann?«

»Ja. Solange du verhinderst, dass sie es ebenfalls so sehen. Indem du ihnen eine Aufgabe zuweist, die man nur wenigen Menschen anvertrauen kann, erweist du ihnen den Vorzug anderen gegenüber.«

Es gab viele Riten und Zeremonien, bei denen ein Gefährte anwesend sein musste, obwohl er selbst keine Rolle in dem Ritus spielte. Reivan vermutete, dass die anderen Gefährten an dergleichen Dingen teilnahmen, um zur Stelle zu sein, falls sie gebraucht wurden. Was wahrscheinlich der Grund war, warum niemand dagegen protestierte, wenn Imenja sie mitnahm.

Heute würde sie dem Ritus der Sonne beiwohnen. Sie hatte der Fruchtbarkeitszeremonie noch nie zuvor beigewohnt oder gar daran teilgenommen, da dieser Ritus verheirateten Paaren vorbehalten war. Reichen verheirateten Paaren. Einzig die Teilnehmer und einige Götterdiener waren während der ganzen Zeremonie zugegen, und die Stimmen vollzogen den Beginn des Ritus.

Der Ritus war ein Quell großer Neugier für junge Pentadrianer – und für alle Fremdländer -, denn nur wenige Menschen sprachen jemals darüber. Die mit dieser Aufgabe betrauten Götterdiener mussten schwören, Stillschweigen über das Tun der Teilnehmer zu bewahren, und die Teilnehmer waren selten bereit, ihre Erfahrungen zu beschreiben. Das Volk der Avvenaner erachtete es als ungehobelt und unhöflich, über die intimen Bereiche der Ehe zu reden.

Dieses Widerstreben der Pentadrianer, von dem Ritus zu sprechen, verleitete Fremdländer im Allgemeinen zu wilden Spekulationen. Reivan war während der Zeit, da sie die Minen Nordithanias kartografiert hatte, vielen Sennonern begegnet, die glaubten, ihr Volk schwelge in rituellen Orgien. Sie hatte in solchen Fällen erklärt, dass einzig verheiratete Paare an den Zeremonien teilnahmen, aber dieser Umstand hatte die Fremden keineswegs davon überzeugt, dass an dem Ritus nichts Obszönes war.

Sobald Sex ins Spiel kommt, überlegte sie, denken die Menschen, das Geschehen müsse irgendwie verkommen sein. Die Sennoner sind noch prüder als die Pentadrianer. Ich wüsste zu gern, ob die Zirkler genauso sind.

Die gewölbte Mauer des Tempels von Hrun erschien vor ihr. Reivan betrachtete sehnsüchtig die fernen Schatten des Bogengangs, durch den man in den Tempel gelangte. Es wurde immer heißer, und sie erfuhr am eigenen Leib, wie unbequem ihre schwarzen Roben im vollen Schein der Sonne sein konnten.

Neidvoll blickte sie auf die Sklaven, die vor ihr hergingen, mit nichts anderem bekleidet als kurzen Hosen. Auf ihrer gebräunten Haut glänzten Schweißtröpfchen. Ein Gerücht, das sie vor kurzem gehört hatte, fiel ihr wieder ein. Einer der befreiten Sklaven der Armee hatte eine Götterdienerin geheiratet. Reivan fragte sich, für welches Verbrechen der Mann mit einem Leben in Sklaverei bestraft worden sein mochte. Die Götterdienerin hätte ihn gewiss nicht geheiratet, wenn er ein Vergewaltiger oder Mörder gewesen wäre.

Hatten sich die Männer vor ihr solch böser Taten schuldig gemacht? Sie beäugte sie zweifelnd. Man erachtete es gemeinhin als besser, Verbrecher zu Sklaven des Sanktuariums zu machen, statt sie in Gefängnissen einzusperren. Alle Götterdiener besaßen Talente und waren daher in der Lage, sich zu verteidigen, sollte ein Sklave Ärger machen.

Alle, bis auf mich, dachte sie. Ich hoffe, die anderen Götterdiener werden sich daran erinnern – oder noch besser wäre es, wenn meine Freunde es täten, während meine Feinde es vergessen würden.

Imenjas Sänfte erreichte jetzt den Eingang zum Tempel und verschwand auf der anderen Seite. Die Augenblicke, bis Reivan dem glutheißen Sonnenlicht entfliehen konnte, kamen ihr endlos vor. Doch zu guter Letzt gelangte auch sie in den Schatten des Gebäudes und ging durch einen breiten, überwölbten Flur. Eine herrliche Brise schenkte ihr Abkühlung. Sie sah sich um und sog voller Staunen den Atem ein.

Wo der Gang endete, enthüllten zwei Türen einen weiten Kreis üppigen Grüns. In der Mitte glitzerte ein Teich, und der Rand der Wiese war von niedrigen Gartenbeeten gesäumt. Dieser Innengarten war nicht überdacht, und Springbrunnen hielten die Luft feucht. Es war wie eine Oase inmitten der Wüste.

Als sie das Ende des Flurs erreichte hatte, folgte sie den Sklaven einen Fußweg entlang, der im Schatten eines Bogengangs um den Garten herumführte. Die innere Mauer des Tempels wurde in regelmäßigen Abständen von offen stehenden Türen unterbrochen. Reivan schätzte, dass es insgesamt mehr als fünfzig dieser Türen gab.

Die Sklaven trugen die vier Sänften zur gegenüberliegenden Seite des Gartens, wo sie sie vor einem erhöhten Podest zu Boden sinken ließen. Ein Ergebener Götterdiener trat vor, um die Stimmen willkommen zu heißen.

Als Reivan den Mann erkannte, stieg prickelnde Freude in ihr auf. Es war Nekaun, der Ergebene, der sie willkommen geheißen hatte, nachdem sie Dienernovizin geworden war. Erst gestern hatte sie erfahren, dass er zu den Ergebenen zählte, die, nachdem man ihre magische Stärke geprüft hatte, noch für die Position der Ersten Stimme zur Verfügung standen. Sie sah zu, wie er die vier Stimmen begrüßte und sie einlud, Platz zu nehmen. Einige Götterdiener brachten vier Bänke für die Stimmen herbei. Als die anderen Gefährten sich auf den Rand des Podests setzten, folgte Reivan ihrem Beispiel.

»Lasst den Ritus der Sonne beginnen«, sagte Imenja.

Nekaun neigte den Kopf, dann wandte er sich dem Garten zu. Er klatschte in die Hände, und aus einem Nebeneingang kamen Götterdiener herbei, die gleichzeitig zu singen begannen. Die Melodie war ebenso feierlich wie freudig, und Reivan konnte einige Sätze verstehen, bei denen es um Liebe und Kinder ging. Sie vermutete, dass dies die Dienerführer waren, die den an dem Ritus teilnehmenden Paaren aufwarten würden.

Als Nächstes kamen die Paare. Sie alle trugen die gleichen schlichten weißen Gewänder, die der Tempel zur Verfügung stellte, und ihre Füße waren nackt. Sie traten auf den Rasen und warteten dort. Einige wirkten nervös. Es gab beträchtliche Altersunterschiede. Manche der Menschen hatten gerade erst das Erwachsenenalter erreicht, andere waren in mittleren Jahren. Reivan bemerkte einige seltsame Paare, bei denen offenkundig war, dass die Ehe um des Geldes oder um einer Position willen geschlossen worden war. Ältere Männer mit jüngeren Frauen, hässliche Menschen mit attraktiven. Unter ihnen fand sich sogar eine ältere Frau mit einem jungen Mann – obwohl beide recht zufrieden mit der Situation wirkten.

Ich beneide die Dienerführer nicht um ihre Pflichten, dachte Reivan.

Das Lied endete. Nekaun trat auf den Rasen.

»Der Ritus der Sonne ist ein sehr alter«, erklärte er den Teilnehmern, »ins Leben gerufen von Hrun vor vielen tausend Jahren. Sein Ziel ist es, die Künste der Wonne und die Fähigkeiten eines harmonischen Miteinanders zu lehren und bei der Erschaffung von neuem Leben zu helfen. Heute findet der Ritus in Tempeln überall in Südithania statt und selbst in einigen Teilen Nordithanias, in denen unser Volk noch immer willkommen ist. Ihr werdet einen Monat lang bei uns bleiben. Ihr werdet essen, damit das Feuer in der Frau geschürt wird, und trinken, damit sich der Quell im Manne mit dem Wasser neuen Lebens füllt.«

Reivan ertappte sich dabei, dass sie die Stirn runzelte, und glättete hastig ihre Züge. Einige der großen Denker des vergangenen Jahrhunderts hatten erklärt, dass der alte traditionelle Glaube, nach dem der Mann die Quelle neuen Lebens und die Frau buchstäblich ein Ofen war, um diese zu wärmen – je heißer, desto besser -, Unsinn sei. Man hatte die Körper von toten Frauen seziert und dabei keine Hinweise auf Feuer gefunden. Keine Flamme, keine Asche, kein versengtes Fleisch. Feuer brauchte Brennstoff und Luft. Nichts deutete darauf hin, dass sich das eine oder das andere im Körper einer Frau befand.