Der Flur des Mittleren Sanktuariums endete auf einem großen Innenhof. Imenja und die anderen Stimmen schritten, gefolgt von den Gefährten, über den Hof und betraten eine luftige Halle. Eine Schar schwarzgewandeter Menschen füllte den Raum. Reivan erkannte die Gesichter vieler Ergebener Götterdiener. Sie fragte sich, wie lange sie hier schon gewartet haben mochten.
Das allgemeine Geplapper erstarb, und alle wandten sich den Stimmen zu, aber die Anführer der Pentadrianer blieben nicht stehen. Sie durchquerten die Halle und nahmen am oberen Ende der Haupttreppe Aufstellung. Als sie dort erschienen, wurden sie von tosendem Stimmengewirr begrüßt. Die Bewohner Glymmas und jene, die in die Stadt gereist waren, um die Wahl der neuen Ersten Stimme mitzuerleben, bildeten eine gewaltige Masse emporgewandter Gesichter und winkender Arme.
Die vier Stimmen standen nebeneinander. Reivan, die sich hinter ihnen befand, konnte ihre Gesichter nicht sehen. Sie schloss die Augen und ließ sich vom lauten Jubel der Menge umspülen.
»Meine lieben Freunde und Pentadrianer«, übertönte Imenja den Lärm.
Die Jubelrufe verstummten langsam. Reivan schaute an Imenja vorbei und sah viele unnatürlich leuchtende Augen in der Menge; etliche der Anwesenden hielten Flaschen und Becher in Händen. Sie kicherte leise in sich hinein.
Es war eine lange Wartezeit. Wahrscheinlich mussten sie sich irgendwie unterhalten.
»Liebe Freunde und Pentadrianer«, wiederholte Imenja. »Wir haben die Stimmen von Götterdienern aus allen Teilen der Welt eingeholt. Der Tag war lang, aber diese Aufgabe war zu wichtig, um sie zu überstürzen. Die abgegebenen Stimmen sind gezählt worden.« Sie hielt die beeindruckend lange Pergamentrolle hoch. »Wir haben eine neue Erste Stimme!«
Die Menge brach abermals in Jubel aus.
»Tretet vor, Ergebene Diener der Götter!«
Aus der Halle hinter ihnen kamen Männer und Frauen die Treppe herunter. Sie formierten sich zu einer langen Reihe am Fuß der Treppe und blickten zu den Stimmen empor.
Einer von ihnen hat die meisten der Götterdiener davon überzeugt, dass er oder sie einen guten Anführer abgeben wird, dachte Reivan. Sie führte sich all die historischen Berichte vor Augen, die sie gelesen hatte, all die philosophischen Erörterungen der Eigenschaften, die einen guten Anführer ausmachten. Verfügt einer dieser Kandidaten wirklich über die richtigen Eigenschaften? Was ist, wenn keiner die Anforderungen erfüllt? Würden die Götter dann eingreifen? Sie runzelte die Stirn. Das wäre ein Schlag ins Gesicht. Es würde andeuten, dass die meisten Götterdiener nicht wussten, nach welchen Kriterien man einen guten Anführer auswählte.
Und vielleicht wissen sie es wirklich nicht. Sie fühlte sich plötzlich unbehaglich. Wie hätten sie dann entschieden? Sie überlegte, was sie selbst getan hätte, wäre sie eine Götterdienerin gewesen, die weit entfernt von Glymma lebte. Wahrscheinlich hätte ich von Anfang an niemanden in Erwägung gezogen, der Ärger gestiftet oder große Fehler gemacht hat. Es würde helfen, wenn einer dieser Leute bereits bewiesen hätte, dass er zum Anführer taugt und gute Entscheidungen treffen kann. Ich glaube, ich würde jemanden vorziehen, der im Krieg gekämpft hat, aber unterm Strich wäre meine Entscheidung wohl ein Glücksspiel, basierend auf den Informationen, die ich hätte. Ich würde niemanden wählen, den ich nicht mag. Das würde niemand tun.
Der letzte der Ergebenen Diener nahm seinen Platz ein, und Imenja hielt abermals die Pergamentrolle hoch. Sie wartete, bis alle still waren – jedenfalls so still, wie man es von einer halb betrunkenen Menge erwarten konnte. Dann entrollte sie das Pergament.
»Die Diener der Götter haben den Ergebenen Nekaun zur neuen Ersten Stimme gewählt. Tritt vor, Nekaun.«
Als die Menge abermals in Jubel ausbrach, legte sich unwillkürlich ein Strahlen über Reivans Züge. Sie dachte an den Tag ihrer Weihe zurück, als dieser Mann sie nicht nur beglückwünscht, sondern ihr auch seinen Rat angeboten hatte.
Oh, gut, dachte sie.
Sie schaute an Imenjas Schulter vorbei und beobachtete, wie Nekaun vortrat. Er wirkte ruhig und gelassen, aber in seinen Augen stand brennende Erregung. Ich hätte ihn gewählt, dachte sie. Er hat noch nie irgendwelche großen Fehler gemacht, er hat einige Jahre lang den Tempel von Hrun geleitet, und er hat im Krieg gekämpft. Er ist umgänglich und freundlich. Und obendrein ist er ein gutaussehender Mann. Das kann für einen Anführer von Vorteil sein! Was könnten die Götter sich mehr wünschen? Sie sah bewundernd zu, wie er einige Schritte vor Imenja stehen blieb und das Zeichen des Sterns schlug.
Imenja reichte Genza das Pergament, und die andere Frau rollte es langsam wieder zusammen. Dann zog Imenja einen Sternenanhänger aus ihrer Robe und hielt ihn in die Höhe. Langsam breitete sich Stille in der Halle aus.
»Nimm dieses Symbol der Götter an«, sagte sie, »und indem du das tust, entscheidest du dich für eine Ewigkeit des Dienstes an ihnen und an ihrem Volk. Du wirst die Stimme werden, durch die sie zu den Sterblichen sprechen. Du wirst die Hand werden, die zu unserem Wohle arbeitet und die unsere Feinde niederschlägt.«
Er griff langsam nach der Kette, dann neigte er den Kopf. »Ich nehme die Last und die Verantwortung an«, erwiderte er.
Er schloss die Augen und streifte sich die Kette über den Kopf. Reivan sah, wie er sich versteifte und ein Ausdruck tiefen Staunens über seine Züge glitt. Schließlich richtete er sich wieder auf, blickte zu Imenja empor und lächelte.
»Die Götter haben mich akzeptiert.«
»Dann nimm jetzt deinen Platz unter uns ein«, beendete Imenja die rituelle Formel.
Noch immer lächelnd, trat er an ihre Seite und wandte sich der Menge zu.
»Volk von Glymma und aller übrigen Orte des südlichen Kontinents. Heißt ihr Nekaun, die Erste Stimme der Götter, willkommen?«, fragte Imenja.
Die Menge antwortete mit zustimmendem Gebrüll.
Imenja wandte sich wieder Nekaun zu. »Willst du eine Ansprache an das Volk halten?«
»Ja.« Er wartete, bis Stille eingekehrt war. »Mein Volk. Während ich jetzt hier vor euch stehe, empfinde ich sowohl Freude als auch Kummer. Freude darüber, dass mir die wunderbarste Gelegenheit geschenkt wurde, den Göttern zu dienen, die ein Mann oder eine Frau nur erhoffen kann. Kummer darüber, dass ich den Platz eines Mannes einnehme, den ich bewundert habe. Ich übernehme bereitwillig dieselben Pflichten, die er getragen hat, denn unsere Ziele sind dieselben. Wir müssen die Welt von den heidnischen Zirklern befreien. Aber fürchtet nicht, dass ich euch in einen weiteren Krieg führen werde. Diesen Versuch haben wir gewagt und sind, sei es durch unglückliche Umstände oder den Willen der Götter, gescheitert. Ich sehe noch einen anderen Weg, unser Ziel zu erreichen. Wir müssen ihnen ihren Fehler zeigen und sie zu den wahren Göttern führen. Wir müssen sie mit sanfter Beharrlichkeit, durch Überzeugungskraft und vernünftige Argumente auf unsere Seite ziehen. Denn ich glaube, dass Wahrheit und Wissen machtvolle Kräfte sind, Kräfte, die zu unseren Gunsten sprechen. Wenn wir uns dieser Kräfte bedienen, können wir nicht scheitern.« Er hob die Arme. »Mit ihrer Hilfe werden wir Nordithania erobern!«
Es ist nicht die Fackel, die Kuar mit seiner flammenden Rede vor der Schlacht an das Öl eines glorreichen Krieges gehalten hatte, ging es Reivan durch den Kopf. Die Menge tobte dennoch, angeheizt von der Erregung dieses bedeutenden Ereignisses, ebenso wie vom Alkohol und vielleicht auch von der Erleichterung darüber, dass es für den Augenblick keinen neuen Krieg geben würde.