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Während Imenja abermals das Wort an die Menge richtete, dachte Reivan über Nekauns Ziel nach. Er will die Zirkler also bekehren, überlegte sie. Welche Pläne er in dieser Hinsicht wohl haben mag? Wird er Götterdiener nach Nordithania schicken, um die Menschen dort für sich zu gewinnen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ihn mit offenen Armen willkommen heißen wird.

Imenja beendete ihre Ansprache. Nekaun blickte kurz zu ihr hinüber, dann setzte er sich an die Spitze der Stimmen und führte sie in die Halle zurück. Reivan und die Gefährten folgten. Als sie im Innern des Gebäudes ankamen, wurden sie von Götterdienern umlagert, die ihrem neuen Anführer ihre Glückwünsche aussprechen wollten. Reivan fragte sich, wie viele von ihnen begriffen hatten, welche Pläne Nekaun möglicherweise mit ihnen hatte. Eine Reise nach Nordithania, um Zirkler zu bekehren, könnte durchaus gefährlicher sein als ein Krieg.

Ich beneide sie nicht um diese Aufgabe, dachte sie. Dann wurde ihr mit einem Mal klar, dass auch sie durchaus dafür in Frage kam. Aber sollte ich mir nicht wünschen, hingeschickt zu werden? Sollte ich nicht bereit sein, alles für die Götter zu tun?

Ich bin unbefähigt und nur eine Dienernovizin. Ich bin hier, im Dienst von Imenja, von größerem Nutzen.

Dennoch würde sie in dieser Angelegenheit vielleicht keine Wahl haben. Was war, wenn Nekaun sie bat, nach Nordithania zu gehen? Was, wenn sie sich in einer Situation wiederfand, in der er sie aus dem Weg haben wollte? Für den Augenblick konnte sie keinen Grund dafür entdecken, aber dies war die Welt der Politik und der Begünstigungen. Alles konnte sich verändern.

Dann gibt es nur eins, was ich tun kann, befand sie. Ich muss dafür sorgen, dass ich ihm keinen Grund liefere, mich wegschicken zu wollen.

15

In der Höhle war es dunkel, als Mirar erwachte. Nur ein schwacher Lichtschein vom Eingang war zu sehen. Emerahl wachte für gewöhnlich früher auf als er und ging hinaus, um die Eimer zu leeren und frisches Wasser zu holen. Er konnte sie nicht atmen hören, daher vermutete er, dass sie fort war. Nachdem er einen Lichtfunken geschaffen hatte, nährte er ihn, bis die ganze Höhle beleuchtet war.

Emerahl lag noch im Bett.

Sofort fiel es ihm wieder ein. Sie war damit beschäftigt, ihr Alter zu verändern. Er stand auf und ging zu ihrem Bett hinüber.

Er konnte nur ihr Gesicht sehen, aber es wies bereits die ersten schwachen Spuren der Veränderung auf. Die Haut, die zuvor jugendlich frisch und fest gewesen war, hing ein wenig lockerer über den Wangenknochen. Zarte Linien hatten sich um ihre Augen und ihren Mund gebildet, und einige Haarsträhnen waren ausgefallen und lagen jetzt als eine dünne goldene Schicht auf der groben Matratze, die sie angefertigt hatte.

Er hob einige der Strähnen auf. Sie hatte es nach und nach gefärbt, vermutete er. Mit jedem Mal ein wenig schwächer. Warum sollte sie ihr Haar färben?

Sie hat gesagt, sie sei vorher eine alte Frau gewesen, rief Leiard ihm ins Gedächtnis. Ihr Haar könnte weiß gewesen sein. Und es muss weiß geblieben sein, obwohl der Rest ihres Körpers eine jugendlichere Gestalt angenommen hat, aber von da an ist es in ihrer natürlichen Farbe nachgewachsen.

Ja, stimmte Mirar zu und besah sich die Strähne noch einmal. Sie muss das Weiß getilgt haben, zuerst mit billigem Pigment, dann mit der besseren Farbe, die das Bordell zur Verfügung gestellt hat.

Das Bordell. Er schüttelte seufzend den Kopf. Sie verfügte über solch große Gaben. Warum musste sie Zuflucht in der Prostitution suchen, wann immer sie sich verstecken musste?

Weil sie keine andere Wahl hatte, sagte Leiard.

Natürlich hatte sie eine Wahl. Mirar runzelte finster die Stirn. Sie hätte Waschfrau werden können oder Fischausweiderin.

Die Priester hätten sich alle weiblichen Gewerbe angesehen, die ein altes Weib vielleicht ergreifen könnte. Indem sie sich für ein Gewerbe entschied, das nur jungen Frauen offenstand, konnte sie sicher sein, dass sie niemals von einem Priester genauer untersucht werden würde.

Es klang vernünftig, gefiel Mirar aber trotzdem nicht. Das Risiko einer Entdeckung musste gering gewesen sein. Die Götter hatten nur einen einzigen Priester befähigt, Gedanken zu lesen.

Das wusste sie nicht, rief Leiard ihm ins Gedächtnis.

Mirar wünschte beinahe, er hätte ihr nicht erzählt, dass die Götter im Allgemeinen nicht dazu neigten, Priestern diese Gabe zu schenken. Jetzt, da Emerahl wusste, dass sie in Sicherheit war, würde sie die Welt durchstreifen wollen, um nach anderen Wilden zu suchen. Er betrachtete sie, und ein Stich der Sorge durchzuckte ihn.

Ich sollte sie begleiten, dachte er.

Das kannst du nicht, bemerkte Leiard. Das Risiko, dass man mich erkennt, ist bei weitem größer als in ihrem Fall. Ich würde uns nur alle in Gefahr bringen.

Mirar nickte zustimmend. Selbst im Schlaf spiegelte sich ihre Stärke in ihren Zügen. Oder vielleicht bildete er sich das nur ein. Sie wird zurechtkommen. Ich bezweifle, dass sie plötzlich leichtsinnig geworden ist, sagte er sich. Nein, sie wird mit derselben Vorsicht zu Werke gehen, die sie immer hat walten lassen. Er seufzte und wandte den Blick ab. Und ich? Ich soll mich unter Menschen begeben, um mich zu heilen. Was für eine Torheit!

Vielleicht war es nicht übermäßig töricht. Er würde sich unter die Siyee mischen – oder wahrscheinlicher einfach hierbleiben, bis sie ihn fanden.

Welchen Vorwand werde ich ihnen für meinen Aufenthalt hier liefern?, fragte er sich. Warum sollte ein Traumweber nach Si kommen?

Natürlich um seine Dienste als Heiler anzubieten, antwortete Leiard.

Die Heilkunst war immer das gewesen, worauf er sich am besten verstanden hatte. Schon als Kind hatte er ungewöhnliche Fähigkeiten in der Heilkunst an den Tag gelegt. Lange Jahre des Studiums und der Arbeit hatten seine Gabe verfeinert. Wann immer er geglaubt hatte, er habe die Grenzen seiner Kräfte erreicht, veranlasste ihn irgendetwas, über diese Grenzen hinauszugehen, und er entdeckte, dass er zu noch mehr imstande war. Eines Tages hatte dieses Geschehen seinen Gipfel in einem jähen Aufleuchten von Begreifen erreicht, und ihm war klar geworden, auf welche Weise er seinen Körper auf unbegrenzte Zeit gesund und jugendlich erhalten konnte.

Dies war der Augenblick, in dem er Unsterblichkeit erlangt hatte. Auch Emerahl hatte diesen Punkt erreicht. Allerdings verfügte sie nicht über das gleiche intuitive Einfühlungsvermögen in die Heilkünste, das er besaß. Ihre angeborene Gabe war das Vermögen, ihr Alter zu verändern.

Und die anderen Wilden? Er dachte an die ungewöhnlichen Menschen, die früher einmal frei in der Welt umhergestreift waren. Der Bauer war berühmt gewesen für sein Wissen über den Anbau von Getreide und die Züchtung von Vieh. Seine angeborene Gabe stand wahrscheinlich irgendwie damit in Verbindung. Die Seherin, auch das Orakel genannt, war in der Lage gewesen, den Weg vorherzusagen, den ein Mensch wahrscheinlich im Leben gehen würde, obwohl sie Mirar gegenüber einmal zugegeben hatte, dass sie nicht in die Zukunft sehen konnte, sondern einfach die Natur von Sterblichen nur allzu gut zu durchschauen vermochte.

Die Möwe hatte alles verstanden, was mit dem Meer zusammenhing. Er konnte Fischschwärme finden, vor Stürmen warnen und war angeblich imstande, in begrenztem Maß das Wetter zu verändern. Die Zwillinge… Mirar war sich nie ganz sicher gewesen, worin ihre Fähigkeiten bestanden. Er war ihnen nie begegnet, aber irgendjemand hatte ihm einmal erzählt, dass sie die Dualität aller Dinge in der Welt verstünden, dass sie Zusammenhänge und Gleichgewichte wahrnahmen, die jedem anderen verschlossen blieben.