Wo sich in dieser Gabe die Magie verbarg, wusste er nicht. Wahrscheinlich würde er es niemals herausfinden. Die beiden waren vermutlich vor hundert Jahren getötet worden, als der Zirkel der Götter beschlossen hatte, Ordnung in ihrer neuen Welt zu schaffen.
Die Götter sind wahrscheinlich die einzigen Wesen, die das wissen, dachte er.
Du könntest sie fragen, schlug Leiard vor.
Er lachte leise. Selbst wenn du damit nicht unseren Tod herbeiführen würdest, bezweifle ich, dass wir ihrer Antwort vertrauen könnten.
Er blickte wieder zu Emerahl hinüber. Sie hatte sich nicht bewegt, während er sie beobachtet hatte, außer um zu atmen. Das Heben und Senken ihrer Brust gestaltete sich so langsam, dass er sie geduldig beobachten musste, um überhaupt eine Veränderung wahrzunehmen.
Ich werde sie vermissen. Er runzelte die Stirn, erstaunt über die Sehnsucht, die diesen Gedanken begleitete. Es war nicht so, als hätte er nicht erwartet, so zu empfinden, aber das Gefühl war stärker, als er vermutet hatte.
Früher hast du nicht so für sie empfunden?, fragte Leiard. Liebst du sie?
Mirar ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. Er empfand Zuneigung für sie und Sorge. Es würde ihm nicht gefallen, wenn ihr etwas zustieße oder sie Schmerzen litte. Er genoss ihre Gesellschaft, hatte ihre körperliche Gesellschaft bei den wenigen Malen, da sie Liebende gewesen waren, immer genossen – aber er war nach wie vor davon überzeugt, dass er keine romantischen Gefühle für sie hegte. Emerahl war eine Freundin.
Ja. Dir hat die Gesellschaft eines Ebenbürtigen gefehlt.
Das könnte sein, räumte er ein.
Dann wandte er den Blick ab und betrachtete noch einmal die Höhle. Er hatte Hunger. Sie hatte ihm erklärt, dass er während der Tage, die sie für ihre Veränderung benötigte, genug zu essen haben würde. Die Vorräte bestanden größtenteils aus Nüssen, frischen und getrockneten Früchten sowie getrocknetem Fleisch und einigen Wurzeln.
Nicht gerade ein inspirierender Speiseplan, ging es ihm durch den Kopf. Er sah zum Höhleneingang hinüber und dachte an die Shrimmi, die sie einmal gefangen und gekocht hatte. Ich glaube, es wird Zeit, dass ich ein wenig Tageslicht abbekomme. Wenn die Siyee vorbeifliegen und mich sehen, dann soll es eben so sein. Ich bezweifle, dass sie eine Bedrohung für Emerahl darstellen. Um sicherzugehen, werde ich ihnen erzählen, sie sei bereits aufgebrochen. Ich werde während der nächsten Tage wohl kaum jeden Augenblick hier in der Höhle sein müssen. Vielleicht kann ich für sie etwas Anständiges zu essen finden, bevor sie aufwacht.
Er griff nach dem Eimer, in dem sie Nahrung gesammelt hatte, und machte sich auf den Weg zum Tunnel und hinaus ins Tageslicht.
Erra betrachtete das eigenartige Kind, das mit angezogenen Knien auf dem Deck lag. Das Mädchen war, soweit er sehen konnte, vollkommen unbehaart. Zwischen den Fingern und Zehen seiner riesigen Hände und Füße spannten sich dicke Schwimmhäute. Seine Haut war unnatürlich dunkel, von einem bläulichen Schwarz. Gestern hatte sie geglänzt, aber jetzt sah sie stumpf und leblos aus.
»Sie bringen Ärger«, warnte ihn Kanyer. »Sie Kind. Erwachsene sie suchen kommen. Schlitzen uns im Schlaf die Kehlen auf.«
»Das hast du gestern Abend auch schon gesagt«, erwiderte Erra. »Und es ist niemand gekommen.«
»Warum du sie behalten?«
»Nur so eine Vermutung. Mein Pa pflegte zu sagen, dass man bei allem, was aus dem Meer kommt, irgendeinen Nutzen finden kann.«
»Inwiefern sie von Nutzen? Du denkst, Meeresvolk Dinge für sie eintauschen?«
»Vielleicht. Ich habe noch eine andere Idee. Silse meinte, er habe beobachtet, wie sie die Glocken pflückte. Er glaubte, sie müsse schon eine ganze Weile damit beschäftigt gewesen sein.«
Kanyer musterte das Mädchen voller Interesse. »Dann seien also wahr, sie atmen Wasser.«
Erra schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat keine Kiemen. Schau dir die Größe ihres Oberkörpers an. Gewaltige Lungenflügel. Das bedeutet wahrscheinlich, dass sie lange Zeit den Atem anhalten kann.« Er rieb sich das stoppelige Kinn. »Das wäre sehr nützlich für uns.«
»Du wollen, sie holen Glocken für uns?«
»Ja.«
»Sie wird nicht tun.«
»Sie wird, wenn wir ihr einen Grund geben.«
Erra ging zu dem Mädchen hinüber und schnitt die Seile auf, mit denen seine Knöchel gefesselt waren. Es wachte nicht auf, daher stieß er es mit dem Fuß an. Sein ganzer Körper zuckte, als es aus dem Schlaf aufschreckte, und es drehte den Kopf, um ihn anzustarren. Seine Lippen waren rissig, und die dünne Schicht über seinen Augen war rot. Er vermutete, dass es außerhalb des Wassers Schaden nahm, und schwache Gewissensbisse regten sich in ihm. Nun, sie hätte nicht versuchen sollen, meine Glocken zu stehlen.
Er beugte sich über den Lampenring und löste das Ende des Seils, mit dem sie dort festgebunden war.
»Steh auf.«
Sie bewegte sich langsam und mit argwöhnischer, verdrossener Miene.
»Komm hierher.«
Er zog sie zu den Körben mit Seeglocken hinüber und zeigte auf den letzten leeren Korb. Dann fuhr er mit der Hand über den Rand eines der gefüllten Körbe und wiederholte die Geste über dem leeren. Sie beobachtete ihn aufmerksam. Er zeigte auf sie, dann auf das Meer, dann deutete er noch einmal auf den leeren Korb. Zu guter Letzt streckte er den Finger nach den Seilen aus und machte eine Bewegung, als durchschnitte er etwas, bevor er wieder auf Imi zeigte und schließlich aufs Meer hinaus.
Sie funkelte ihn an; offensichtlich verstand sie ihn, aber was er vorschlug, gefiel ihr nicht. Dennoch leistete sie keinen Widerstand, als er sie zum Rand des Bootes hinüberzog. Die Seeleute, die noch immer an ihrer Morgenmahlzeit kauten, beobachteten sie.
Er drehte sie um und band das Seil, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, los. Dann knotete er ihr ein neues, trockenes Seil um den Hals. Das Seil würde sich vollsaugen, wenn es nass wurde, so dass man es auf keinen Fall lösen konnte. Schließlich stieß er sie an und zeigte noch einmal auf das Wasser.
Sie musterte ihn einen Moment lang voller Groll, dann sprang sie über Bord. Sofort begann sie, an dem Seil zu zerren.
»Silse«, rief Erra.
Der Schwimmer kam herbeigeschlendert.
»Spring ins Wasser und behalte sie im Auge. Wenn es so aussieht, als könnte sie sich befreien, gib mir Bescheid. Dann ziehen wir sie wieder heraus.«
Der Mann zögerte. Wahrscheinlich belastete es das Gewissen des Narren, das Mädchen auf diese Weise zu benutzen. Oder fürchtete er, seinen Anteil an den Gewinnen zu verlieren?
»Worauf wartest du?«, knurrte Erra.
Silse zuckte die Achseln, dann sprang er ins Wasser. Das Mädchen hörte auf, an dem Seil zu reißen. Stattdessen betrachtete es Silse, der neben ihm dahintrieb. Nachdem es ihn lange Zeit angestarrt hatte, tauchte es plötzlich in die Düsternis ab, und das Seil zog sich hinter ihm her durchs Wasser.
Silse ließ sie nicht aus den Augen. Einen Moment später nahm er den Kopf aus dem Wasser.
»Sie tut es, aber sie pflückt eine Glocke nach der anderen ab.«
»Lass sie gewähren«, sagte einer der anderen Seeleute. »Das wird uns ein wenig Arbeit sparen.«
Erra nickte. Wenn es später darum ging, die Gewinne aufzuteilen, würde es weniger Ärger geben, wenn die anderen nicht behaupten konnten, Silse habe weniger geleistet als sie. Er zeigte auf einen der Beutel, in denen die Schwimmer die Seeglockenpflanzen nach oben gebracht hatten.