»Gib ihn mir.«
Sie warfen ihn ihm zu. Er ließ ihn neben Silse ins Wasser fallen.
»Wenn sie wieder hochkommt, gib ihr den Beutel«, befahl er dem Schwimmer, dann setzte er sich hin, um zu warten.
Sie kehrte früher zurück, als er erwartet hatte, aber sie hielt so viele Seeglocken in den Händen, wie sie fassen konnte. Silse machte sich unbeholfen daran, ihr den Verwendungszweck des Beutels zu erklären. Das Mädchen ignorierte ihn. Es warf die Glocken aufs Deck, packte den Beutel und verschwand wieder in der Tiefe.
Silse blickte auf, und Erra zuckte die Achseln.
Die Seeleute ließen sich lässig im Boot nieder. Einige von ihnen begannen ein Spiel. Das Mädchen kam noch drei- oder viermal an die Oberfläche, um Atem zu schöpfen. Jedes Mal wurde der Beutel in den Korb geleert und zurückgegeben.
Nach dem vierten Mal kam Erra zu dem Schluss, dass seine Idee bestens funktionierte. Er konnte sich ebenso gut ein Glas Schnaps genehmigen und es sich wohl sein lassen. Also hielt er Ausschau nach dem jüngsten Mitglied seiner Mannschaft, Darm, und entdeckte den Jungen oben auf dem Mast.
»Darm!«, brüllte er.
Der Junge zuckte zusammen. »Ja, Kapitän?«
»Komm runter.«
Der Junge löste seine dünnen Beine vom Mast und kletterte hinab. Erra griff in seine Tasche und förderte ein wenig Rauchholz zutage.
»Kapitän?«
Erra blickte auf. Der Junge hatte auf halbem Weg den Mast hinunter Halt gemacht und deutete auf die Klippen an einer Seite der Bucht.
»Segel!«, rief er. »Da kommt jemand.«
Sofort waren alle Seeleute auf den Beinen. Erra ging zum Mast hinüber, entschlossen, selbst nachzusehen, was sich jedoch als überflüssig erwies. Hinter den Klippen kam langsam der Bug eines Schiffs in Sicht.
Es war ein schon reichlich zerschundenes, aber stabiles Handelsschiff, größer als die Fischerboote. Erra kniff die Augen zusammen. Er konnte die Umrisse von Männern an Bord sehen; sie hatten an der Seite in Reih und Glied Aufstellung genommen. Als der Rest des Schiffes in Sicht kam, hoben die Fremden die Arme und winkten.
Erra war mit einem Mal flau im Magen. Sie hielten Schwerter in Händen.
»Plünderer!«, schrie Darm.
Erra fluchte. Selbst wenn sie mit gehissten Segeln gefahren wären und nicht in der Bucht gefangen säßen, wären seine Boote niemals schnell genug gewesen, um das Schiff abzuschütteln. Sie würden die Boote zurücklassen müssen – aber vielleicht konnten sie ihre Beute retten. Er wandte sich seiner Mannschaft zu. Die Männer waren bleich und machten den Eindruck, als hätten sie am liebsten das Weite gesucht.
»Wir müssen ans Ufer schwimmen!«, rief einer.
»Nein!«, brüllte Erra. »Noch nicht. Wir haben noch ein wenig Zeit, bevor sie hier sein werden.« Er zeigte auf die Körbe mit Seeglocken. »Bindet sie zu, befestigt Gewichte an den Seilen und werft sie ins Wasser. Dann werden wir an Land schwimmen. Jeder, der nicht mithilft, bekommt am Ende nicht eine einzige Münze.«
Sofort brach hektische Betriebsamkeit aus. Mit hämmerndem Herzen packte Erra alles, was sich als Gewicht verwenden ließ, und band es an die Körbe. Er trieb die Mannschaft mit geheuchelter Zuversicht vorwärts. Die ersten zwei Eimer landeten klatschend im Wasser, dann ein dritter. Sofort versanken sie in der Tiefe.
»Sie kommen schnell näher!«, jammerte Darm. »Wir werden es nicht bis zum Ufer schaffen!«
Erra richtete sich auf, um zu dem Schiff hinüberzuschauen, das sich tatsächlich zügig näherte. Er schätzte die Entfernung ab, die sie würden schwimmen müssen.
»In Ordnung. Lasst die übrigen Körbe stehen. Sie sollen das Gefühl haben, Beute gemacht zu haben, sonst werden sie uns allein spaßeshalber verfolgen. Schwimmt!«
Ohne darauf zu warten, dass die anderen ihm folgten, tauchte er ins Wasser. Die Furcht verlieh ihm Kraft und Geschwindigkeit. Als er schließlich den Strand erreicht hatte, zog er sich mühsam hoch und blickte aufs Meer hinaus. Das Schiff hatte die Boote jetzt fast erreicht. Als seine Mannschaft aus dem Wasser auftauchte, stieß er einen Fluch aus und rannte dann auf den Wald zu.
Erst später, als er von einem Felsvorsprung aus die qualmenden Rümpfe der Boote betrachtete, fiel ihm das Meeresmädchen wieder ein. War sie klug genug gewesen, sich zu verstecken oder zu entfliehen, oder hatten sie sie gefunden? Er schickte Silse zurück, um nachzusehen, aber der Schwimmer konnte keine Spur von ihr entdecken. Er fand lediglich das durchschnittene Ende des Seils.
Es fiel Erra nicht schwer, seine Gewissensbisse beiseitezuschieben. Er hatte jetzt wichtigere Sorgen.
Wie zum Beispiel die Frage, wie er von dieser Insel kommen sollte.
Der bleierne Himmel stahl allem die Farbe – nur nicht dem Blut.
Die Gesichter der Leichen waren weiß, und ihr Haar war entweder schwarz oder farblos bleich. Den Waffen, die noch immer von steif gewordenen Händen umfasst wurden oder in erkaltetem Fleisch steckten, fehlte der Glanz. Die Zirks der Priester waren von einem dumpfen Weiß.
Aber die Flecken auf ihren Gewändern leuchteten. Dickes Rot sickerte aus Wunden und klebte an Klingen. Ganze Teiche davon sammelten sich wie ein morbider Teppich unter den Toten. Rinnsale sickerten in die Erde. Es sammelte sich zu Strömen, drang in den Boden ein, so dass jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch hervorrief.
Auraya versuchte, sich über die trockenen Stellen zu bewegen, aber das Blut stieg auf und überzog ihre Sandalen. Der übelkeiterregende Schlamm saugte an ihren Füßen. Sie machte noch einige weitere Schritte, dann stellte sie fest, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Der Schlamm hielt ihre Schuhe fest und gab unter ihr nach. Sie spürte, wie sie hinabsank, verlagerte das Gewicht auf ein Bein und versuchte, das andere zu befreien, doch sie sank nur umso tiefer in den Boden. Schließlich spürte sie, wie die kalte Feuchtigkeit ihre Beine hinaufkroch, und ihr Herz begann zu rasen.
»Du hast uns getötet«, zischte eine Stimme.
Als sie aufblickte, sah sie Leichen, die die Köpfe hoben, um sie mit toten Augen anzustarren.
Nicht jetzt, dachte sie. Ich habe schon genug Probleme.
»Du«, sagte ein anderer Leichnam, dessen Kopf halb abgetrennt war. »Du hast mir das angetan.«
Sie versuchte, die Stimmen zu überhören und sich darauf zu konzentrieren, sich aus dem Schlamm, der sie nicht loslassen wollte, zu befreien. Rote Bläschen und Schaum bedeckten die Oberfläche. Sie beugte sich vor und suchte verzweifelt nach irgendetwas, woran sie sich festhalten konnte, um nicht weiter abzusinken. Etwas, das sie als Hebel benutzen konnte.
Ich werde ertrinken, schoss es ihr durch den Kopf, und Angst wallte in ihr auf. Ich werde ersticken, den Mund und die Lunge voller blutdurchtränkter Erde.
Doch da war nichts, nichts als ein Meer aus Leichen, die mit Fingern wie Krallen nach ihr griffen. Sie wich zurück, spürte, wie sie tiefer hinabsank, und zwang sich schließlich, die Hände nach ihnen auszustrecken.
»Es ist deine Schuld, dass ich tot bin«, zischte eine Frau.
»Deine Schuld!«
»Deine!«
Nein.
Alles um sie herum kam zum Stillstand. Die Leichen erstarrten mitten in der Bewegung. Die Saugkraft des Schlamms verebbte. Auraya sah sich verwirrt um. Die Augen der Leichen zuckten hin und her, auf der Suche nach der Stimme.
Das passiert sonst nicht, überlegte sie.
Es ist nicht ihre Schuld, dass ihr tot seid. Wenn ihr irgendjemandem die Schuld geben müsst, dann gebt sie mir. Doch so oder so, ihr irrt euch. Weder Auraya noch ich haben den Schlag geführt, der euch getötet hat.
Eine leuchtende Gestalt erschien. Die Leichen wichen vor dem Mann zurück. Er blickte auf Auraya hinab und lächelte.
Hallo, Auraya.