Fürchte dich nicht davor, zu denken, Auraya. Deine Reaktion ist spontan, wie könnte ich also daran Anstoß nehmen? Mir ist es lieber, wenn du mich wie einen sterblichen Gefährten behandelst. Oder wie einen der anderen Weißen.
Aber das alles bist du nicht. Du bist ein Gott.
Das ist wahr. Du wirst lernen müssen, mir zu vertrauen. Es steht dir frei, auf mich wütend zu sein. Es steht dir frei, meinen Willen zu hinterfragen oder mit mir zu streiten. Ich möchte, dass du mit mir streitest.
Und er möchte noch mehr als das, dachte sie.
Diesmal spürte sie, wie ihr vor Verlegenheit die Röte in die Wangen schoss, und sie wandte sich wieder dem Fenster zu, um ihre Reaktion vor den anderen Weißen zu verbergen. Vor Chaia konnte sie jedoch nichts verbergen. Eine weitere Welle der Erheiterung spülte über sie hinweg.
Auch das ist wahr. Ich mag dich, Auraya. Ich beobachte dich schon sehr lange, und ich habe gewartet, bis du so erwachsen warst, dass ich es dir erzählen konnte, ohne dich in Aufruhr zu stürzen.
Und dies stürzt mich nicht in Aufruhr?, dachte sie ironisch. Sie erinnerte sich an die Küsse, denen sie ausgewichen war. Für ein Wesen, das keine körperliche Gestalt hatte, konnte er überraschend sinnlich sein. Er suchte häufig ihre Nähe, wie zum Ausgleich für den Umstand, dass er keinen Körper besaß. Seine Berührung war die Berührung von Magie, und doch war es kein unangenehmes Gefühl.
Es stürzt mich nicht annähernd so sehr in Aufruhr, wie es das tun sollte, überlegte sie. Ich sollte mir einfach eingestehen, dass ich Leiard vermisse. Nicht nur seine Gesellschaft, sondern auch die… Nächte. Manchmal ist die Versuchung, Chaia seinen Willen zu lassen, so groß.
Plötzlich fühlte sie sich zutiefst unbehaglich. Wie konnte sie ausgerechnet einen Gott begehren? Es war falsch.
Sollte die Entscheidung über richtig und falsch nicht bei mir liegen?, fragte Chaia.
Sie spürte ein Kribbeln dicht neben ihrem Gesicht und schnappte nach Luft. Es war eine flüchtige Berührung. Dann spürte sie, wie er seine Aufmerksamkeit abrupt abwandte.
Ich muss gehen, sagte er.
Die leuchtende Präsenz verschwand. Auraya gewann einen Eindruck von unglaublicher Schnelligkeit, was keinen Zweifel daran ließ, dass er Ithania binnen eines Herzschlags durchqueren konnte.
»Auraya!«
Sie zuckte zusammen und drehte sich zu Juran um. Zu ihrer Überraschung waren die anderen Weißen fort. Sie waren gegangen, und sie hatte es nicht einmal bemerkt.
Juran musterte sie sichtlich verärgert. Sie verzog entschuldigend das Gesicht, und seine Miene wurde wieder weicher.
»Was ist los, Auraya?«, fragte er leise. »Deine Gedanken sind in letzter Zeit immer wieder abgeschweift, selbst bei wichtigen Besprechungen. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
Sie erwiderte seinen Blick, unsicher, was sie sagen sollte. Ich könnte irgendeine Ausrede erfinden. Aber es müsste eine gute sein. Nur etwas Wichtiges könnte mein Verhalten in letzter Zeit rechtfertigen. Während sich das Schweigen zwischen ihnen in die Länge zog, wurde ihr klar, dass ihr keine Entschuldigung einfallen würde, die gut genug war – bis auf die Wahrheit.
Trotzdem zögerte sie. Wäre es in Chaias Sinn, wenn sie Juran erzählte, dass er ständig zu ihr sprach?
Chaia?
Wie sie vermutet hatte, bekam sie keine Antwort. Der Gott war nicht in der Nähe. Juran beobachtete sie erwartungsvoll.
Er hat nie gesagt, dass ich es Juran nicht erzählen darf, dachte sie. Dann holte sie tief Luft.
»Es ist Chaia«, murmelte sie. »Er spricht zu mir. Manchmal bei… ungünstigen Gelegenheiten.«
Juran zog die Augenbrauen hoch. »Seit wann tut er das? Und wie oft?«
Sie überlegte kurz. »Seit zwei Monaten, und mindestens einmal am Tag.«
»Worüber spricht er?«
Er wirkte verärgert, was Auraya nicht überraschte. Er war der Anführer der Weißen. Wenn Chaia einen von ihnen mit täglichen Besuchen auszeichnete, sollte es doch gewiss Juran sein.
»Über nichts Wichtiges«, antwortete sie hastig. »Es ist einfach nur… Geplänkel.« Als Juran die Stirn runzelte, wurde ihr klar, dass sie die Situation damit nicht gerade verbessert hatte. »Er berät mich, was das Hospital betrifft«, fügte sie hinzu.
Juran nickte langsam, und sie sah zu ihrer Erleichterung, dass diese Erklärung ihn beschwichtigte. »Ich verstehe. Das ergibt einen Sinn. Und worüber redet ihr sonst noch?«
Sie zuckte die Achseln. »Es sind einfach nur freundschaftliche Gespräche. Ich denke… ich denke, er versucht mich kennen zu lernen. Er hatte mehr als hundert Jahre Zeit, um dich kennen zu lernen. Selbst Rian ist seit sechsundzwanzig Jahren dabei. Ich bin erst seit kurzer Zeit eine Weiße.«
»Das ist wahr.« Juran nickte, und seine Schultern entspannten sich. »Nun, das ist eine interessante Enthüllung. Ich hatte den Eindruck, dass du meine letzte Bemerkung nicht mitbekommen hast, daher will ich sie jetzt wiederholen. Wir haben drei Siyee gesehen, die auf den Turm zuflogen. Die anderen sind aufs Dach hinaufgegangen, um sie zu begrüßen.«
Aurayas Herzschlag beschleunigte sich. »Siyee? Sie würden ohne Grund nicht so weit fliegen.«
Er lächelte. »Dann lass uns hinaufgehen und herausfinden, worum es geht.«
Es war nur ein kurzer Weg bis zum Dach. Die Sonne hing jetzt tief über dem Horizont. Auraya blickte an den anderen Weißen vorbei und suchte den Himmel ab. Drei Gestalten schwebten auf den Turm zu.
Die Weißen schwiegen, als das geflügelte Trio näher kam. Zwei der Siyee waren, wie Auraya sah, in mittleren Jahren. Der dritte war ein wenig jünger und trug eine Klappe über einem Auge. Die Siyee formierten sich zu einer Reihe und landeten gleichzeitig. Der jüngere Mann stolperte, verlor jedoch nicht das Gleichgewicht. Sie waren offenkundig erschöpft.
Ihre Augen richteten sich auf Auraya. Sie schaute zu Juran hinüber, der nickte. Lächelnd trat sie vor, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
»Seid mir willkommen, Menschen des Himmels. Ich bin Auraya von den Weißen.« Sie deutete der Reihe nach auf die anderen Weißen und stellte sie vor. Der Siyee mit der Augenklappe machte das Zeichen des Kreises.
»Vielen Dank für dein Willkommen, Auserwählte der Götter«, erwiderte der Mann. »Ich bin Niril vom Stamm des Sonnenhügels. Meine Gefährten sind Dyni und Ayliss vom Kahlenbergstamm. Wir haben uns erboten, als Abgesandte unseres Volks hier in Jarime zu bleiben.«
»Es wird uns eine Ehre sein, euch unter uns zu wissen«, erwiderte sie. »Ihr müsst müde sein von eurer Reise. Ich werde euch in ein Quartier begleiten, in dem ihr euch ausruhen könnt, wenn das euer Wunsch ist.«
Niril neigte den Kopf. »Dafür wären wir euch sehr dankbar. Aber zuerst habe ich eine wichtige Nachricht für euch, die ich euch von den Sprechern übermitteln soll. Vor zehn Tagen wurde vor der Küste des südlichen Si ein schwarzes Schiff gesichtet. Die Siyee, die dem Ereignis nachgegangen sind, haben mehrere Gruppen von Pentadrianern von Bord gehen und landeinwärts reisen sehen. Einige der Pentadrianer trugen den Sternenanhänger auf der Brust, und man hat auch Vögel gesehen.«
Ein kalter Schauer überlief Auraya. Die Siyee hatten im Krieg zu viele Kämpfer verloren. Wussten die Pentadrianer das? Hielten sie die Siyee für verletzbar?
»Das sind schlechte Neuigkeiten«, sagte sie. »Aber es ist ein Glück, dass euer Volk die Pentadrianer hat ankommen sehen. Das gibt uns ein wenig Zeit.« Sie drehte sich zu Juran und den anderen Weißen um. »Wir werden entscheiden, was diesbezüglich unternommen werden soll.«
»Ja«, pflichtete Juran ihr bei. »Wir werden uns am Altar treffen. Aber zuerst wird Auraya euch zu eurem Quartier führen. Sobald ihr euch ausgeruht habt, werden wir euch in unsere Gespräche miteinbeziehen.«