»Bedeutet das, dass wir uns wieder im Krieg befinden?«, fragte Mairae.
Juran schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Aber die Pentadrianer haben einen unserer Verbündeten überfallen.«
»Sie sind unerlaubt in das Land eines Verbündeten eingedrungen«, korrigierte Juran sie. »Soweit wir wissen, haben sie niemandem in Si irgendwelchen Schaden zugefügt.«
»Weil die Siyee nicht dumm genug sind, sich ihnen zu nähern«, sagte Auraya. »Wir müssen herausfinden, warum sie dort sind.«
»Ja«, pflichtete Juran ihr bei. »Das wird einige Zeit dauern. Ich werde die Priester, die vor kurzem im Offenen Dorf angekommen sind, zu ihnen schicken.«
»Priester?«, wiederholte Auraya überrascht. »Warum sollten wir ihr Leben gefährden und die Siyee einer solchen Verzögerung aussetzen? Ich kann Si binnen eines Tages erreichen.«
Juran tauschte einen Blick mit Dyara, bevor er Auraya ansah. »Das wäre vielleicht unklug.«
Auraya blinzelte überrascht. Sie schaute zu Mairae und Rian hinüber, die beide ebenso verwirrt wirkten wie sie. »Inwiefern?«
Juran legte die Hände auf den Tisch. »Wir wissen, dass die pentadrianischen Anführer mächtige Zauberer sind. Wir wissen, dass die verbliebenen vier uns, was ihre Stärke betrifft, fast ebenbürtig sind.«
»Derjenige, den sie Shar nennen – der Worn-Reiter – ist schwächer als ich«, warf Rian ein.
»Ja«, stimmte Juran ihm zu. »Du bist der Einzige von uns, der einer Stimme im Kampf Mann gegen Mann gegenübertreten kann.« Er hielt inne und sah Auraya an. »Das heißt, du bist der Einzige, der jemals gegen eine noch lebende Stimme angetreten ist«, fügte er hinzu. »Glücklicherweise hat Rian Shar überwältigt. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, dass einer von uns sich im Kampf als der Schwächere erweist und getötet wird.«
»Dann werde ich mich fernhalten, falls ich eine der beiden mächtigeren Stimmen sehen sollte«, sagte Auraya. »Die beiden Schwächeren dürften kein Problem darstellen.«
Juran lächelte grimmig. »Dein Mut ist bewundernswert, Auraya.«
»Warum? Wir haben während der Schlacht eine Vorstellung von ihrer Stärke gewonnen.«
»Eine gewisse Vorstellung, ja, aber zu einer genauen Einschätzung sind wir nicht in der Lage. Wir wissen nicht, ob die beiden Schwächeren mit Abwehrmaßnahmen beschäftigt waren, die wir zu der Zeit nicht wahrgenommen haben. Sie könnten stärker sein, als wir glauben.«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn Rian Shar besiegen konnte, dann kann ich es ebenfalls. Wir wissen, dass die Vogelfrau – Genza – neben Shar die Schwächste ist. Ich bin bereit, darauf zu setzen, dass ich sie allein überwältigen kann.«
»Und könntest du sie beide gleichzeitig besiegen?«
Sie zögerte, als Zweifel in ihr aufstieg.
Juran breitete die Hände aus. »Erkennst du die Gefahr jetzt? Denk an unsere eigenen Schwächen.« Er sah sie einen nach dem anderen an. »Was wäre, wenn ihr alle abwesend wärt, und die vier pentadrianischen Anführer Jarime angreifen würden? Allein könnte ich sie nicht aufhalten. Was wäre, wenn sie unsere Schritte beobachten und einen Hinterhalt planen, um uns einzeln zu töten, wenn wir uns trennen?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn wir allein sind, sind wir verletzbar.«
Mairae stieß einen leisen Laut der Ungläubigkeit aus. »Du hast doch gewiss nicht vor, uns alle von jetzt an in Jarime festzuhalten? Wie können wir dann andere Länder verteidigen? Was ist mit unseren Bündnisvereinbarungen?«
Auraya nickte zustimmend. Eine Reise nach Si war ein Risiko, aber eines, das einzugehen sich lohnte. Was hältst du von alledem, Chaia?, dachte sie plötzlich.
Juran verzog das Gesicht. »Unsere Priester und Priesterinnen können mit den meisten Bedrohungen fertigwerden. Wir werden sie ausschicken, um Informationen einzuholen, bevor wir selbst etwas unternehmen.«
»Das dürfte in Si kaum funktionieren«, bemerkte Auraya. »Sie würden niemals rechtzeitig dort eintreffen.«
»Wenn wir Priester und Priesterinnen unter den Siyee haben, wird das nicht länger ein Problem darstellen.«
»Was jedoch nicht rechtzeitig geschehen wird, um dieser Gefahr zu begegnen. Es wird Jahre dauern, bis…«
Eine plötzliche Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds lenkte sie ab. Sie sah sich um und stellte fest, dass es sich nicht um eine körperliche, sondern um eine magische Bewegung handelte. Eine vertraute Präsenz strich über ihre Sinne.
Hallo, Auraya.
Sie unterdrückte ein Seufzen. Ihr himmlischer Bewunderer war zurückgekehrt, und wie gewöhnlich zu einer Zeit, da sie keine Ablenkung gebrauchen konnte.
»Was ist los, Auraya?«, fragte Dyara leise. »Was siehst du?«
Auraya wandte sich Dyara zu. »Du spürst ihn überhaupt nicht?«
Dyara schüttelte den Kopf. Auraya blickte schnell zu Mairae und Rian hinüber, die verwirrt wirkten. Juran runzelte die Stirn. Dann spiegelten sich auf allen Gesichtern mit einem Mal Freude und Ehrfurcht wider, und die übrigen Weißen schauten zu einer Stelle hinter Auraya. Sie sah über ihre Schulter und bemerkte eine leuchtende Gestalt hinter sich.
Juran, sagte der Gott zur Begrüßung. Dyara, Auraya, Rian und Mairae.
»Chaia«, erwiderten die anderen ehrerbietig und machten das Zeichen des Kreises. Auraya folgte hastig ihrem Beispiel. Sie hatte sich so sehr an Chaias Gegenwart gewöhnt, dass es leicht war zu vergessen, welche Reaktion von den Weißen erwartet wurde, wenn einer der Götter erschien.
Der Gott kam langsam um den Tisch herum.
Wie ihr wisst, ziehen wir es die meiste Zeit über vor, den Unsterblichen zu erlauben, ihre eigenen Wege zu wählen. Gelegentlich greifen wir ein, da es unsere Pflicht ist, eure Taten zu leiten, wenn sie mit unseren Zielen im Widerspruch stehen. Er hielt inne und sah Juran an. Dies ist eine Gelegenheit, da ich eingreifen muss.
Juran zog die Brauen zusammen und blickte auf den Tisch.
Euer Ziel ist es, unsere Anhänger zu schützen, nicht euch selbst, erklärte Chaia.
Juran zuckte zusammen. »Es war nicht meine Absicht, uns auf Kosten anderer zu schützen«, sagte er und blickte zu dem Gott auf. »Mein Ziel ist es, die Zirkler auf lange Sicht zu schützen. Falls einer von uns stirbt, wird ganz Nordithania verletzbar sein.«
Dyara nickte. »Ich bin derselben Meinung. Sollte Auraya in Si sterben, könnte das langfristig zu einer großen Zahl von Toten führen.«
Chaia lächelte.
Sollte Auraya sterben, werden wir einen Ersatz für sie auswählen – obwohl ich bezweifle, dass wir jemanden finden würden, der über ebenso große Gaben verfügt wie sie.
Trotz des Lobes überlief Auraya ein Schauer. Sie hatte geglaubt, sie sei bereit, ihr Leben für die Siyee aufs Spiel zu setzen. Jetzt, da sie wusste, dass die Götter genau dieses Risiko von ihr verlangten, regte sich irgendwo tief in ihrem Innern Furcht. Sie fühlte sich… austauschbar.
Genau wie ein Soldat, dachte sie. Nun, nichts anderes sind wir im Grunde. Mächtige, unsterbliche, mit Gaben gesegnete Soldaten im Dienst der Götter. Die Ironie dessen, was sie soeben gedacht hatte, blieb ihr nicht verborgen. Wir sind nur deshalb unsterblich, weil wir nicht altern. Sollten wir vor der Art von Konflikt stehen, die Juran fürchtet – sollten wir unser Leben ständig aufs Spiel setzen müssen, um die Zirkler zu schützen -, dann könnten wir sehr viel schneller den Tod finden als gewöhnliche Sterbliche. Sie straffte sich. Dann soll es so sein.
»Ich habe mich dafür entschieden, den Göttern zu dienen, und ich habe nicht die Absicht, damit in allzu naher Zukunft aufzuhören, obwohl es mir eine große Freude wäre, mich zu ihnen zu gesellen«, erklärte sie. »Ich werde keine unnötigen Risiken eingehen. Und vergesst nicht – ich kann binnen eines Tages wieder hier sein, falls ihr mich braucht.«