Juran sah ihr fest in die Augen, dann nickte er und wandte sich zu Chaia um. »Ich danke dir für deine Weisheit und Leitung, Chaia«, sagte er demütig. »Ich werde Auraya nach Si schicken.«
Der Gott lächelte, dann verschwand er. Auraya spürte, wie er sich außer Reichweite ihrer Sinne bewegte. Als sie wieder zu Juran hinüberblickte, betrachtete er sie mit undeutbarer Miene.
»Die Götter haben dich mit ungewöhnlichen Gaben begünstigt«, sagte er. »Ich hätte erkennen sollen, dass sie die Absicht hatten, dich diese Gaben nutzen zu lassen. Sei vorsichtig, Auraya. Es sind nicht nur deine einzigartigen Fähigkeiten, die wir vermissen würden, wenn wir dich verlören.«
Sie lächelte gerührt. »Vielen Dank. Und ich werde vorsichtig sein.«
Juran sah die anderen an. »Dann wäre das also entschieden. Und jetzt sollten wir besser unsere Gäste davon in Kenntnis setzen.« Er wandte sich an Auraya.
»Ich werde es ihnen erzählen«, sagte sie.
Als sie sich erhoben und die Seiten des Altars sich langsam öffneten, dachte Auraya an Chaias Erscheinen. Sie hatte sich gefragt, was er wohl von Jurans Einwand halten würde. Hatte sie ihn gerufen, ohne dass es ihr bewusst gewesen war? War er nahe genug gewesen, um ihr Gespräch mit anzuhören, noch bevor ihre Sinne ihn hatten wahrnehmen können?
Dies waren Fragen, über die sie später würde nachdenken müssen. Für den Augenblick sollte sie sich besser damit beschäftigen, wie sie mit diesen Pentadrianern in Si verfahren konnte, ohne sich selbst oder die Siyee in Gefahr zu bringen.
Der Alte Grim sah auf, als die Frau den Raum betrat, und konnte den Blick nicht mehr abwenden. Hohe Wangenknochen, Haar, so schwarz wie die Nacht, eine gute Figur – obwohl sie ein wenig mehr Fleisch auf den Knochen hätte vertragen können. Als das Lampenlicht auf ihre Augen fiel, sah er, dass sie grün waren. Als die Frau ihren Begleiter anlächelte, erschienen Falten um ihre Augen, die ihr Alter verrieten.
Sie muss eine Schönheit gewesen sein, als sie jünger war, ging es ihm durch den Kopf. Mit wem ist sie da zusammen? Ah, Marin. Der Mann kann einfach nicht aus seiner Haut heraus. Er muss sich alles ansehen, was neu ist. Ich erinnere mich noch gut daran, wie er als Junge am Strand entlanggezogen ist, immer auf der Suche nach Dingen, die die Flut angespült hatte.
Marin machte die Frau mit seinen Zechgefährten bekannt, blieb aber nicht stehen. Zu Grims Überraschung zwinkerte der Mann ihm zu, dann führte er die Frau zu Grims Tisch.
»Guten Abend«, sagte Marin. »Das ist der Alte Grim«, erklärte er der Frau. »Grim, das ist Limma Heilerin.«
»Guten Abend«, sagte Grim und nickte der Frau zu. Sie lächelte unbefangen. Er fing den Duft von Kräutern und etwas Erdigerem auf. Der Familienname war wahrscheinlich eine akkurate Beschreibung ihres Gewerbes.
»Limma interessiert sich für Geschichten über die Möwe«, fuhr Marin fort. »Ich habe ihr erzählt, dass du ihm begegnet bist. Und sie glaubt mir sogar.«
»Ach ja?« Ein alter Groll regte sich in Grim, aber als er versuchte, die Frau anzufunkeln, verebbte sein Zorn wieder. Sie sah ihm gelassen in die Augen. Irgendetwas ging von ihr aus; sie wollte etwas von ihm. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er irgendetwas zu bieten hatte – abgesehen von seiner Geschichte.
Neugierig hob er seinen Becher. »Eine lange Geschichte braucht einen feuchten Mund.«
Limma lachte und griff unter ihr Kapas. Er bemerkte die vielen Beutel darunter, und der Geruch von Kräutern und Heilmitteln wurde stärker. Die Frau drehte sich zu dem Besitzer des Trinkhauses um und warf ihm eine Münze hin. Er fing sie geschickt auf und nickte, während sie ihm auftrug, ihre Becher stets wohlgefüllt zu halten. Marin und Limma ließen sich auf der Bank gegenüber nieder.
»Du bist der Möwe also begegnet«, sagte sie. »Wie lange ist das jetzt her?«
Grim zuckte die Achseln. »Ich war noch jung, kaum mehr als ein Knabe. Ich wollte gern etwas von der Welt sehen, daher habe ich auf den Booten angeheuert, die die Küste hinauf nach Aime fuhren. Als ich dort ankam, fand ich Arbeit auf einem Handelsschiff. Es war nicht das, was ich erwartet hatte. Es ist immer harte Arbeit, aber damals habe ich eines gelernt: je größer das Boot, umso wichtiger ist es den Leuten, dafür zu sorgen, dass jeder weiß, wer von wem Befehle entgegennimmt. Ich stand in der Hackordnung ziemlich weit unten.« Bei der Erinnerung daran verzog er das Gesicht.
»Auf dem Schiff war ein Junge. Er hatte keinen Namen. Man nannte ihn allgemein nur ›Junge‹. Eines Tages wurde mir klar, dass niemand diesem Jungen jemals zu nahe trat. Er gab den Leuten keinen Grund dazu, aber selbst wenn man auf diesem Schiff seine Arbeit sehr schnell verrichtete, blieb einem dadurch Prügel nicht erspart. Ich begann diesen Jungen zu beobachten. Er war ein hübscher Bursche, aber keiner der Schläger wagte es, ihm etwas anzutun. Tatsächlich benahmen sie sich so, als hätten sie Angst vor ihm.
Eines Tages setzte er sich während der Mittagspause zu mir. Er erklärte, dies sei nicht das richtige Schiff für mich. Er sagte, ich bräuchte ein kleineres Boot, dann würde ich einen guten Kapitän abgeben. Ich würde mich wohler fühlen im Kampf gegen das Meer als im Kampf gegen andere Männer. Tief im Herzen wusste ich, dass er recht hatte, aber ich wollte die Welt sehen, verstehst du, und er war nur ein Junge. Was wusste er schon? Also blieb ich.
Als wir einige Wochen später im Begriff standen, den Hafen von Aime zu verlassen, sprach er mich abermals an. Er zeigte auf ein kleineres Schiff und sagte, dass man dort nach einer Mannschaft suche. Ich dankte ihm für die Information, aber ich blieb. Andere heuerten ab, und ich war stolz darauf, dass ich selbst nicht klein beigab.«
Ein Schankjunge stellte drei frische Becher auf den Tisch, und Grim hielt im Sprechen inne. Er nahm einen tiefen Schluck, seufzte und kratzte sich dann am Kopf.
»Wo war ich?«
»Der Junge hat dich ein zweites Mal gewarnt«, sagte Limma.
Er sah sie überrascht an. Sie lächelte wissend, schwieg aber. Grim wischte sich den Mund ab und fuhr fort.
»Wir waren erst wenige Tage draußen auf See, als der Himmel schwarz wurde und der Wind zu schreien begann. Wir konnten nur einige Schritte weit sehen. Ich hörte den Jungen dem Kapitän sagen, dass sie auf Felsen zusteuerten und nach Steuerbord halten sollten. Er sprach mit solcher… Autorität. Der Kapitän verfluchte den Jungen und schickte ihn unter Deck. Im nächsten Moment tauchte der Junge direkt vor mir auf. Ich konnte sehen, dass er wütend war. Zornig, wie nur ein Erwachsener es sein konnte. Es war so eigenartig, diese Regung im Gesicht eines so jungen Menschen zu sehen.«
Grim hielt inne. Die Erinnerung war so lebendig. Er konnte noch immer das Eis im Wind und die Furcht in seinen Eingeweiden spüren und das Gesicht des Jungen sehen. Er nahm noch einen Schluck von seinem Getränk und konzentrierte sich auf die tröstliche Wärme, die es mit sich brachte. Die beiden Zuhörer warteten geduldig.
»Der Junge hat mich zum Beiboot hinübergezerrt. Als mir klar wurde, dass ich ihm helfen sollte, die Taue zu kappen, protestierte ich. Er richtete sich auf und sah mir in die Augen…« Grim ahmte den Jungen nach und fixierte die Frau mit einem Blick, von dem er hoffte, dass er überzeugende Festigkeit vermittelte. »Dann sagte er: ›Ich habe dich zweimal gewarnt. Ich werde dich nur noch ein einziges Mal warnen. Verlass dieses Schiff, oder du wirst keinen Tag mehr zu leben haben!‹ In diesem Augenblick entdeckte uns einer der Schläger – ein großer, massiger Mann. Er brüllte auf und hob die Hand, um nach dem Jungen zu schlagen. Seine Faust fand jedoch nicht ihr Ziel. Der Junge machte eine winzige Bewegung, und der Schläger fiel hintenüber. Sein Kopf prallte gegen die Reling, und er blieb liegen.«
Grim lächelte. »Ich stand da und starrte den Jungen an. Er versetzte mir einen gewaltigen Stoß, so dass ich in das Beiboot fiel, dann lösten sich die Seile wie von selbst. Im nächsten Moment stürzten das Beiboot und ich ab und schlugen auf das Wasser. Ich lag einfach nur benommen da und blickte zu dem Jungen auf, während sich das Beiboot vom Schiff entfernte, als dränge irgendetwas es aufs Meer hinaus.«