Der Alte Grim schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nie wiedergesehen. Als ich am nächsten Tag ans Ufer ruderte, folgte mir eine Schar Möwen. Da wurde mir klar, wer er war. Später hörte ich, dass das Schiff auf die Felsen gelaufen war. Der größte Teil der Mannschaft war umgekommen, aber niemand hat einen Jungen gesehen. Weder tot noch lebendig.«
Die Frau lächelte jetzt. Es bereitete Grim ein gewisses Vergnügen, das zu sehen. Meine Geschichte hat ihr gefallen, erkannte er. Ich denke, es spielt keine Rolle, ob sie sie glaubt oder nicht.
»Du bist ein glücklicher Mensch«, sagte sie.
Er hob seinen Becher und trank. »Das ist wahr. Mein Schicksal hat sich von jenem Tag an gewendet. Ich arbeitete für meinen Unterhalt, und als ich wieder nach Hause kam, hatte ich genug beisammen, um mir ein eigenes Boot zu kaufen.«
»Also bist du am Ende doch Kapitän geworden«, sagte sie und hob ihren Becher an die Lippen.
»Allerdings.«
»Aber niemand hat dir deine Geschichte geglaubt.«
»Niemand außer meiner Frau.«
»Bist du dir sicher?« Ihre Augen wurden schmal. »Bist du wirklich niemals jemandem begegnet, der wusste, dass deine Geschichte der Wahrheit entsprach?«
Er hielt inne, denn ihm fiel mit einem Mal ein, dass das, was er gesagt hatte, nicht die ganze Wahrheit war. »Bei einigen wenigen Leuten hatte ich den Eindruck, dass sie mir glaubten. Reisende größtenteils. Ein junger Segelmacher hat mir vor kurzem erzählt, er habe von einem Händler oben im Norden eine ganz ähnliche Geschichte gehört.«
»Auch dieser Händler ist der Möwe begegnet?«
»Das hat er gesagt. Er meinte, dass er von Plünderern überfallen worden war, und ein Junge hat ihn gerettet.«
»Hat der Mann den Namen des Händlers genannt?«
»Nein, aber der Segelmacher lebt ein Stück weiter oben an der Küste.« Er beugte sich vor. »Warum interessierst du dich so sehr für die Möwe?«
Sie lächelte. »Ich möchte sie finden.«
Er lachte leise. »Viel Glück. Ich habe den Eindruck, dass er der Typ ist, der dich findet, nicht umgekehrt.«
»Das hoffe ich.«
»Was willst du eigentlich von ihm?«
»Einen Rat.«
An ihrer Miene konnte er ablesen, dass sie mehr nicht sagen würde. Also zuckte er nur die Achseln und hielt seinen leeren Becher hoch. »Gib mir noch etwas zu trinken, dann werde ich mich vielleicht an die Namen anderer Reisender erinnern, die mir geglaubt haben.«
Wie er gehofft hatte, lachte sie und wandte sich ab, um den Schankjungen herbeizuwinken.
18
Als Reivan Imenja auf den Balkon hinausfolgte, sah sie, dass die anderen Stimmen sich bereits dort eingefunden hatten. Abgesehen von Nekaun saßen alle auf den Riedstühlen und nippten an kühlen Getränken, und alle außer Nekaun waren in Begleitung eines Gefährten gekommen.
Nekaun selbst hatte noch keinen Gefährten ausgewählt. Seit seiner Wahl zur Ersten Stimme waren erst zwei Monate vergangen, und Reivan vermutete, dass ein Gefährte mit großer Sorgfalt ausgesucht werden musste. Es wäre nicht gerecht gewesen, wenn er Gefährten auswählte und wieder entließ, bis er jemanden gefunden hatte, den er mochte und dem er vertraute.
Nekaun nickte Imenja zu, als sie sich setzte, dann wanderte sein Blick zu Reivan hinüber, und er lächelte. Wie immer lächelte er auf eine Art und Weise, als sei sie eine Freundin, die zu sehen er sich freute, und wie immer machte sein Verhalten sie ein wenig verlegen. Es schmeichelte ihr, dass ein so außergewöhnlicher Mann sie überhaupt beachtete.
Alle bewunderten ihn. Er war charmant und aufmerksam. Wenn er mit jemandem sprach, schenkte er ihm seine ungeteilte Konzentration. Er lachte über die Scherze seines Gegenübers, hörte sich seine Klagen an und konnte sich stets an die Namen der Menschen erinnern, mit denen er schon einmal zu tun gehabt hatte.
Wahrscheinlich sieht es nur so aus, als würde er sich daran erinnern, überlegte Reivan, während sie neben ihrer Herrin Platz nahm. Er braucht sich die Namen der Menschen nicht einzuprägen. Er kann sie einfach aus ihren Gedanken lesen, wann immer es erforderlich ist.
Die Art, wie die Stimmen miteinander umgingen, hatte sich verändert. Obwohl Reivan Nekaun niemals wütend oder energisch erlebt hatte, bezweifelte sie nicht, dass er die Zügel in der Hand hielt. Er suchte zwar stets den Rat der anderen, aber letztendlich lagen die Entscheidungen bei ihm.
Natürlich können die anderen keine Einwände erheben, wenn sie ihm den Rat gegeben haben, der zu seiner Entscheidung führte, ging es ihr durch den Kopf.
Als Imenja ihm die Verantwortung der Führerschaft übertragen hatte, hatte sie weder Erleichterung noch Bedauern zu erkennen gegeben. Seither hatte sie kaum ein Wort über Nekauns Tun und Lassen verloren. Falls sie etwas an seinen Entscheidungen auszusetzen hatte, ließ sie sich Reivan gegenüber nichts davon anmerken.
Sie kann mit mir nicht darüber sprechen. Er würde es aus meinen Gedanken lesen. Sie wird mir nichts erzählen, was er nicht wissen darf.
Nekaun ging vor dem Geländer auf und ab. Jetzt warf er ihr einen unergründlichen Blick zu, und sie errötete.
Wo habe ich nur meine Gedanken? Ich bin wieder einmal furchtbar zynisch. Das muss aufhören. Ich hoffe, er weiß, dass es nur eine Angewohnheit ist und dass ich nicht wirklich glaube, an seinen Entscheidungen sei etwas auszusetzen, sonst…
»Da wir nun alle hier sind, können wir auch gleich anfangen«, sagte Nekaun.
»Ja«, stimmte Imenja ihm zu. »Über wen oder was sollen wir zuerst reden?«
Nekaun lächelte. »Shar und Dunwegen zuerst, denke ich.«
Die gutaussehende, blonde Götterstimme räusperte sich. Shar hatte einen seiner zahmen Worns mitgebracht, und das Tier lag hechelnd neben dem Stuhl. »Der Schiffswrackplan scheint bisher funktioniert zu haben. Die Überlebenden sind gut behandelt worden. Das zweite Boot liegt noch immer im Hafen von Chon fest. Wie erwartet widerstrebt es den Dunwegern, unsere Leute von Bord gehen zu lassen.«
Nekaun nickte. »Genza?«
Die Vierte Stimme bog ihre schlanken, muskulösen Arme durch. »Meine Leute sind seit elf Tagen unterwegs, aber obwohl unsere Vögel bei der Vermessung des Landes geholfen haben, kommen sie nur langsam voran. Sie haben in der Ferne einige Male Siyee gesehen, aber die fliegenden Menschen nähern sich ihnen nicht.«
»Keine Spur von der, die sie Auraya nennen?«
»Nein.«
»Gut.« Nekaun wandte sich an Vervel.
Der untersetzte Mann zuckte die Achseln. »Meine Götterdiener sind eingetroffen. Den Torenern scheint es gleichgültig zu sein, welcher Nationalität sie angehören, solange sie etwas von ihnen kaufen können. Ein sehr pragmatisches Volk. Das zweite Boot hat Genria noch nicht erreicht.«
Nekaun blickte zu Imenja hinüber. »Und deine Götterdiener befinden sich noch auf See?«
Sie nickte. »Ja. Sie wurden ebenso wie deine von diesem Sturm aufgehalten. Jetzt, da das Wetter besser ist, sollten sie es wohl in einigen Tagen bis nach Somrey schaffen.«
»Ist es klug, wenn unsere Leute ihre jeweiligen Ziele zur selben Zeit erreichen?«, fragte Vervel. »Die Zirkler könnten es bemerken und Verdacht schöpfen.«
»Falls sie diesen Dingen überhaupt Aufmerksamkeit schenken«, erwiderte Nekaun und sah Genza an. »Es ist unwahrscheinlich, dass deine Leute unbemerkt bleiben werden, da Fremde sich so selten nach Si wagen. Andererseits haben die Siyee keine eigenen Priester oder Priesterinnen, so dass es vielleicht leichter sein wird, sie zu überzeugen.«
»Es wird nicht so einfach sein, unter gewöhnlichen Menschen potenzielle Götterdiener zu finden«, warf Vervel ein. »Von meinen Leuten höre ich, dass fast alle befähigten Männer und Frauen der Priesterschaft beitreten.«