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Reivan nickte.

Du hättest mich vorwarnen können.

Wegen der Zeremonie? Dann hättest du eine schlaflose Nacht gehabt. Ich wollte, dass du heute Nachmittag hellwach und aufmerksam bist.

Ach ja? Was hast du denn vor?

Oh, nur eine weitere langweilige Zusammenkunft mit einem murianischen Diplomaten.

Inzwischen hatte die letzte der Dienernovizinnen ihren Sternenanhänger entgegengenommen. Als sie sich zu der Gruppe um Reivan gesellte, ergriff Nekaun abermals das Wort, um alle neuen Götterdiener willkommen zu heißen. Nachdem er seine Ansprache beendet hatte, traten die anderen Anwesenden im Raum vor, um sie zu beglückwünschen. Obwohl alle Lehrer, mit denen sie zusammengearbeitet hatte, Reivan willkommen hießen, bemerkte sie doch, dass sie ihr nicht mit der gleichen Herzlichkeit gegenübertraten, die sie den anderen neuen Götterdienern gegenüber an den Tag legten.

Ich hatte einfach nicht genug Zeit, sie für mich zu gewinnen, dachte sie wehmütig. Selbst wenn ich ihnen nicht von Anfang an missfallen hätte, hätte ich keine Gelegenheit gehabt, mich mit ihnen anzufreunden.

Dann kam Imenja zu ihr, und sie beobachtete mit einiger Erheiterung, wie sich das Verhalten der anderen Götterdiener veränderte. Einige wurden mit einem Mal still, während andere sich in einem Wortschwall ergingen. Die Zweite Stimme dankte ihnen für ihre harte Arbeit bei der Unterweisung der Dienernovizen.

Warum schüchtert Imenja mich nicht ein?, fragte sie sich.

Weil Unterwürfigkeit und Schmeichelei kein Teil deines Wesens sind, erklang Imenjas Stimme in ihren Gedanken. Du bist viel zu klug für all diesen Unsinn.

Wenn alle so wären, würdest du niemals jemanden dazu bewegen können, deine Befehle zu befolgen.

Das ist wahr. Also, warum befolgst du meine Befehle?

Ich weiß es nicht. Du bist eine Stimme. Du bist weise und, ähm, empfindsam. Würdest du mich zu einem Häufchen Asche verbrennen, wenn ich dir nicht gehorchte?

Imenja kicherte, was die anderen Götterdiener zutiefst erstaunte. Sie sagte, dass sie Reivans Hilfe benötige, und irgendwie gelang es ihr, sie geschickt von der Menge loszueisen. Als sie den Sternensaal verließen, lachte Imenja abermals leise auf.

»Ich denke, du befolgst meine Befehle, weil ich in deinen Augen den Göttern am nächsten komme«, sagte Imenja leise. »Du fühlst dich nicht nur deshalb zu den Göttern hingezogen, weil du ihnen zu dienen wünschst, sondern weil du eine Denkerin bist – oder warst. Rätsel faszinieren dich.«

Reivan nickte. »Ich nehme an, es ist eine gute Sache, dass ich dieses Rätsel nicht lösen kann, sonst würde ich mich vielleicht irgendwann langweilen und nach etwas anderem Ausschau halten, worüber ich mir den Kopf zerbrechen könnte.«

Imenja zog die Augenbrauen hoch. »In der Tat.«

»Aber ich würde trotzdem…« Reivan brach ab. Etwas regte sich am Rand ihrer Wahrnehmung und lenkte sie ab. Sie fragte sich, ob sie es sich eingebildet hatte, obwohl sich der Eindruck im nächsten Moment zu einem deutlichen Gefühl einer anderen Präsenz wandelte. Einer Präsenz, die sie nicht erkannte.

Willkommen, Götterdienerin Reivan.

Im nächsten Augenblick war die Präsenz fort.

»W… was war das?«

Sie sah sich im Raum um, dann schaute sie zu Imenja hinüber. Die Zweite Stimme starrte sie überrascht an. Überraschung war ein Ausdruck, den Reivan bisher nicht allzu oft in Imenjas Zügen gesehen hatte.

»Ich glaube, Sheyr hat soeben seine Zustimmung zu deiner Ernennung zur Götterdienerin zum Ausdruck gebracht«, murmelte die Zweite Stimme.

Sheyr? Einer der Götter hat zu mir gesprochen? Der Korridor schien sich zur Seite zu neigen, dann richtete er sich wieder auf. Reivan sah Imenja an. Sie fühlte sich vollkommen überwältigt. Was hat das zu bedeuten?

Imenja lächelte. »Ich könnte mir vorstellen, dass du zur Feier des Tages etwas zu trinken brauchst. Wir sollten uns einen Domestiken suchen und nach einer Flasche Jamya schicken.«

»Jamya? Ich dachte, der würde nur bei Zeremonien gereicht?«

»Und manchmal nach Zeremonien.« Imenja legte Reivan eine Hand auf die Schulter und schob sie in Richtung des Oberen Sanktuariums.

20

Imi war sich schon seit langer Zeit sicher, dass sich etwas verändert hatte. Das Schiff schlingerte nicht mehr so heftig, und sie hatte, bis auf eine flache Pfütze, alles Wasser aus dem Rumpf geschöpft. Auch die gedämpften Rufe der Plünderer klangen anders. Es lag ein Unterton von Vorfreude in ihren Stimmen.

Sie hatte lange gerätselt und gelauscht, und das hatte sie von dem Schmerz in ihren Armen und Schultern abgelenkt. Dennoch fürchtete sie sich vor dem, was die Veränderung bedeuten konnte, und statt Langeweile und Erschöpfung, die zuvor vom Verstreichen der Stunden gekündet hatten, ließen Furcht und Sorge die Zeit jetzt unerträglich langsam vergehen.

Plötzlich schlingerte das Schiff. Sie ließ den Eimer fallen und stürzte zu Boden. Das Meerwasser war warm, aber willkommen. Einen Moment später schloss sie die Augen und gab ihrer Müdigkeit nach.

Sie musste eingeschlafen sein. Als sie wieder erwachte, waren die Kisten und die großen Tonkrüge, die im Rumpf gelagert worden waren, verschwunden. Sie hörte schnelle Schritte und Rufe von oben. Als die Geräusche verebbten, hatte sich das Fleckchen Himmel, das sie sehen konnte, von Blau über Orange zu Schwarz gewandelt. Es war stiller als während der vergangenen Wochen. Sie glitt langsam wieder in den Schlaf hinüber …

Dann war sie mit einem Schlag hellwach, als Licht den Rumpf erfüllte. Sie zog sich hoch, griff nach dem Eimer und bückte sich, um ihn zu füllen. Zwei Beine erschienen und bewegten sich die Leiter hinunter. Imis Mund wurde trocken, als sie sah, dass dies der Mann war, der die Plünderer anführte. Bis auf sie selbst war der Rumpf leer. Was wollte der Mann?

Als er auf dem Boden angelangt war, trat er einen Schritt zurück. Er sah sie an, dann blickte er wieder zum Deck hinauf. Ein weiteres Paar Beine kam die Leiter hinab. Diese Beine waren in ein Tuch gehüllt, das so schwarz war wie Seeröhrentinte, und sie gehörten einem Mann, den Imi noch nie zuvor gesehen hatte. Als dieser Fremde von der Leiter auf den unebenen Boden trat, schwankte er unsicher; offensichtlich war er nicht einmal an die sanftesten Bewegungen eines Schiffes gewöhnt.

Er musterte sie, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung, dann grinste er den Plünderer an. Die beiden Männer begannen zu reden, während sie auf sie zukamen.

Einige Schritte von ihr entfernt blieben sie stehen. Sie drehte den Kopf weg, beunruhigt von der Art, wie der Fremde sie anstarrte. Sein Blick wanderte von ihren Füßen zu ihrem Kopf und wieder zurück. Das Gespräch wurde lebhafter. Plötzlich fassten die beiden Männer einander an den Handgelenken, kehrten ihr den Rücken zu und gingen davon.

Als sie auf dem Deck verschwanden, ließ Imi den Eimer los. Sie seufzte und setzte sich wieder in die Pfütze.

Kurze Zeit später erklangen abermals Geräusche von der Leiter. Zwei der Plünderer kamen in den Rumpf hinunter und gingen auf sie zu. Sie rappelte sich hoch, und ihr Herz begann zu hämmern. Einer der Männer hielt ein grob gewobenes Tuch.

Der andere packte sie am Arm und zerrte sie zu sich heran. Als der Erste das Tuch mit beiden Händen fasste, wurde ihr klar, dass es sich um einen Sack handelte und dass die beiden vorhatten, sie hineinzustecken.

Sie versuchte, sich dem Griff des ersten Mannes zu entwinden, aber seine Hände waren groß und stark, und sie war zu schwach. Schwindel befiel sie, und sie verlor das Gleichgewicht. Der Sack wurde ihr über den Kopf gestreift, und unerbittliche Hände hielten sie fest, während einer der Plünderer den Stoff bis zu ihren Knöcheln hinunterzog. Dann wurde sie hochgehoben und spürte, wie der Sack unter ihren Füßen zugeknotet wurde.