Sie runzelte die Stirn, als sei sie besorgt. »Ich will es nicht wissen, ich muss es wissen. Die Geheimnisse der Möwe müssen sicher sein.«
Seine Augen weiteten sich, und er erbleichte. »Ich dachte, du… sie haben nicht verstanden, was ich ihnen erzählte. Ich bin davon überzeugt, dass sie es nicht verstanden haben.«
»Was hast du gesagt?«
»Ich… ich habe ihnen von dem Hort erzählt. Sie hatten mir etwas in meinen Wein gegeben.« Er sah sie flehentlich an. »Ich wollte das nicht. Und ich habe ihnen nicht erzählt, wo der Hort ist. Du glaubst doch nicht, dass sie ihn ohne meine Hilfe finden werden, oder?«
Sie seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wo der Hort ist. Wir alle bekommen unterschiedliche Geheimnisse zugewiesen, die wir hüten müssen, und dies war dein Geheimnis. Hast du ihn gewarnt?«
Wieder machte er große Augen. »Wie?«
Sie blinzelte, als überrasche seine Frage sie. »Du hast keine Möglichkeit, dich mit ihm in Verbindung zu setzen?«
»Nein… aber ich nehme an, wenn ich dorthin zurückginge… Aber es ist so weit weg von hier, und ich habe kein Boot.«
»Ich auch nicht, aber ich könnte eins kaufen.« Sie schüttelte den Kopf, wandte sich dem Meer zu und tat so, als denke sie nach. »Du solltest mir wohl besser alles erzählen, Gherid. Ich bin weit fort von zu Hause, und von hier aus ist mir der übliche Weg, mich mit ihm in Verbindung zu setzen, verschlossen. Wir müssen der Möwe eine Nachricht schicken. Vielleicht wird mir nichts anderes übrigbleiben, als zum Hort zu gehen und dort eine Nachricht für dich zu hinterlegen.«
Bei der Dankbarkeit, die er jetzt verströmte, bekam sie leichte Gewissensbisse. Sie manipulierte den armen Jungen. Es ist ja nicht so, als hätte ich böse Absichten, sagte sie sich. Ich möchte die Möwe finden, damit wir einander helfen können.
Er ging zu einem Steinbrocken in der Nähe und ließ sich darauf niedersinken. »Es ist eine lange Geschichte. Du solltest dich besser setzen. Hast du schon mal ein Boot gesegelt?«
Emerahl lächelte. »Schon sehr, sehr oft.«
21
Devlem schob sich die letzte Scheibe von der Frucht in den Mund, dann leckte er sich den süßen Saft von den Fingern. Einer der drei Diener, die in der Nähe standen, trat vor und hielt ihm ein goldenes Tablett hin. Devlem nahm das säuberlich gefaltete, feuchte Tuch von dem Tablett, wischte sich damit die Hände ab und legte es wieder auf das Tablett.
Das Geräusch hastiger Schritte hallte im Hof wider. Ein Diener kam an Devlems Tisch gelaufen und verbeugte sich.
»Die Fracht ist eingetroffen.«
Mit nur zwei Tagen Verspätung, dachte Devlem. Wenn ich den Färbern ein wenig zusetze, werde ich es vielleicht vor Arlem auf den Markt schaffen – aber nur, wenn die Lieferung nicht verdorben ist.
Er stand auf und durchquerte den Hof. Ein überwölbter Flur führte ihn zur Vorderseite des Hauses. Von dort aus folgte er einem gepflasterten Pfad zu den schlichteren Gebäuden, in denen seine Waren lagerten.
Draußen standen mehrere Tarns, und seine Männer waren bereits damit beschäftigt, die großen Tuchballen unter der Anleitung seines Aufsehers hineinzutragen.
Devlem trat in das Gebäude, ohne den Dienern Beachtung zu schenken, und untersuchte die Fracht. Bei einem Tuchballen war die wasserdichte Plane aufgerissen.
»Öffnen«, befahl er.
Einige Diener eilten herbei, um die Plane aufzuschneiden.
»Vorsichtig!«, blaffte Devlem sie an. »Ihr werdet noch den Stoff beschädigen!«
Jetzt gingen sie langsamer und sorgfältiger zu Werke. Während sie arbeiteten, warfen sie ihm immer wieder nervöse Blicke zu. Gut, dachte er. Die Peitsche hat sie endlich gelehrt, sich respektvoller zu zeigen. Sie wurden den genrianischen Frauen von Tag zu Tag ähnlicher mit ihrem Gejammer und ihrem Klagen.
Die Plane teilte sich, und darunter kam sauberer, unversehrter Stoff zum Vorschein. Devlem trat näher heran.
»Herr Händler!«
Hastige Schritte wurden laut, und er drehte sich um, verärgert über die Störung. Es war eine der Rasenschneiderinnen. Sie war hässlich für eine avvensche Frau, und er hatte ihr eine Arbeit im Garten zugewiesen, so dass er sie nicht anzusehen brauchte.
»Herr«, keuchte sie. »Im Beckenhaus ist ein Ungeheuer!«
Er seufzte. »Ja. Ich habe es dort untergebracht.«
Sie biss sich auf die Lippen. »Oh. Es scheint tot zu sein.«
»Tot?« Er richtete sich erschrocken auf.
Sie nickte.
Er stieß einen Fluch in seiner genrianischen Muttersprache aus, ging an der Frau vorbei aus dem Lagerhaus und eilte auf die Gärten zu. Das Beckenhaus lag in der Mitte eines großen Rasenstücks. Vor dem Eingang hatten sich die Rasenschneider versammelt.
»Zurück an die Arbeit!«, befahl er.
Sie drehten sich zu ihm um, dann sprangen sie auch schon davon. Als er das Tor des Hauses erreichte, zog er den Schlüssel aus dem Schloss. Im Innern des Gebäudes konnte er das junge Meerestier auf dem Boden liegen sehen.
Am vergangenen Abend hatte er nicht viel Zeit gehabt, seine Neuerwerbung zu untersuchen. Der Plünderer hatte behauptet, es handle sich um ein weibliches Kind, aber der einzige Beweis dafür war der Mangel an männlichen Organen. Devlem hatte seinen Dienern befohlen, der Kreatur die schmutzigen Lumpen abzunehmen, die ihr von den Schultern gehangen hatten. Als er sie jetzt betrachtete, kam er zu dem Schluss, dass der Plünderer recht hatte, und überlegte, ob sie wohl Brüste entwickeln würde wie menschliche Frauen.
Vielleicht würde er, wenn sie ausgewachsen war, ein Männchen dazukaufen. Wenn die beiden Nachkommen hervorbrachten, konnte er ihre Jungen für ein Vermögen verkaufen.
Das Schloss klickte. Er drückte das Tor auf und ging zu der Kreatur hinüber. Warum war sie aus dem Wasser gestiegen? Er hockte sich hin und stellte fest, dass sie noch atmete.
Je länger er sie betrachtete, umso größer wurde seine Sorge. Ihr Atem ging in gequälten Stößen, und ihre Haut war stumpf und rissig. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte er gesagt, dass sie gefährlich dünn sei. Außerdem verströmte sie einen abscheulichen Geruch. Alle Tiere rochen schlecht, und er hatte angenommen, dass der Gestank natürlich war, aber jetzt war er sich da nicht mehr so sicher.
Er fasste sie unterm Kinn und drehte ihren Kopf, so dass er ihr Gesicht untersuchen konnte. Als sie seine Berührung spürte, flatterten ihre Lider, und sie öffnete für einen Moment die Augen, bevor sie sie wieder schloss. Dann stieß sie ein leises Stöhnen aus.
Ich habe eine Menge Geld für sie bezahlt. Er erhob sich und blickte auf sie hinab. Wenn sie krank ist, muss ich jemanden finden, der sie heilt. Wer könnte wissen, was mit ihr los ist? Ich könnte einen Tierheiler herholen, aber ich bezweifle, dass er je zuvor einen der Meeresmenschen gesehen hat. Ich bezweifle, dass überhaupt jemand sie bisher zu Gesicht bekommen hat. Es sei denn…
Er lächelte, als ihm klar wurde, dass es durchaus Menschen in Glymma gab, die etwas über das Meeresvolk wissen könnten. Er wandte sich ab, verschloss hastig das Tor und eilte zum Haus hinüber, wo er nach einem Boten rief. Mirar hob einen Stein hoch. Nichts. Er legte ihn wieder weg und griff nach dem nächsten. Eine kleine Kreatur huschte davon. Er versuchte sie zu packen, aber sie schoss schnurstracks in eine Ritze zwischen zwei viel größeren und schwereren Felsbrocken.
Verflucht. Wie hat Emerahl diese Shrimmi nur fangen können? Wenn ich doch nur…
»Wilar! Traumweber!«
Er zuckte erschrocken zusammen und blickte auf. Tyve kreiste über ihm. Mirar fing ein starkes Gefühl von Angst von dem Jungen auf. Er erhob sich, beschattete die Augen mit der Hand und sah zu, wie der Siyee landete.
»Was ist passiert?«
»Sizzi ist krank. Und Veece und Ziti ebenfalls. Außerdem scheinen auch andere krank zu werden. Kannst du mit ins Dorf kommen? Kannst du uns helfen?«