Dort angekommen, setzte sie sich und zog genug Magie in sich hinein, um einen Schild gegen den Regen zu formen. Ihre Kleider waren durchnässt und schwer. Sie benutzte ein wenig mehr Magie, um sich zu wärmen und zu trocknen. Als das Wasser wie dünner Nebel aus ihren Kleidern und ihrem Haar aufstieg, schauderte sie.
Ich kann nur hoffen, dass dies nicht einer von den Dreitagesstürmen ist, dachte sie. Wenn sich das Wetter in einigen Stunden noch nicht gebessert hat, werde ich noch einmal versuchen, diese Treppe zu finden.
Und wenn sie sie nicht fand? Sie würde hierbleiben und abwarten müssen, bis der Sturm sich legte. Selbst wenn sie Magie benutzte, um das Boot durch das Wasser zu lenken, hatte sie noch immer keine Ahnung, in welche Richtung sie sich wenden musste, um zur Küste zurückzukehren.
Mit einem resignierten Seufzer öffnete sie ihren Beutel und holte einige getrocknete Früchte hervor, die sie verzehren wollte, während sie wartete.
Die Membranwände der Laube leuchteten im Licht der frühen Morgensonne. Auraya sah sich in dem kleinen Haus um und seufzte vor Wohlbehagen. Es tat gut, wieder in Si zu sein.
Warum fühle ich mich hier so zu Hause?, fragte sie sich. Es geht mir besser als seit Monaten. Und ich hatte letzte Nacht keine Alpträume, wurde ihr plötzlich klar. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Großteil ihrer Sorgen hinter sich gelassen. Die Alpträume. Das Hospital. Mir war gar nicht bewusst, wie sehr mich die Angelegenheiten des Hospitals umgetrieben haben.
Sie dachte an ihren früheren Aufenthalt in Si zurück. Hier hatte sie sich morgens nach dem Aufwachen immer wohlgefühlt. Aber lag das vielleicht an meinen Traumvernetzungen mit Leiard?, überlegte sie plötzlich.
Leiard. Glaubte sie, dass der Schmerz, der jeden Gedanken an Leiard stets begleitet hatte, langsam schwächer wurde? Er schien jetzt Teil des Lebens eines anderen Menschen zu sein. Vielleicht würde sie schon bald gar nichts mehr empfinden.
Ich hoffe nicht, dass es so kommt, sagte eine vertraute Stimme in ihre Gedanken hinein. Es wäre schrecklich, wenn du nichts mehr empfinden würdest. Weder Glück noch Trauer. Weder Freude noch Schmerz.
Ich meinte, dass ich vielleicht schon bald nichts mehr für Leiard empfinden werde, antwortete sie Chaia. Das weißt du.
Du wirst immer irgendetwas für ihn empfinden. Die Zeit wird den Schmerz dumpfer werden lassen. Und nichts kann diesen Schmerz besser lindern als das Erwachen neuer Gefühle.
Ja, dachte sie. Neue Gefühle und neue Herausforderungen. Wie das Ziel, diese Pentadrianer aus Si zu vertreiben.
Das war es nicht, was ich im Sinn hatte.
Sie lächelte schief. Das hatte ich mir gedacht. Aber wie heißt es so schön: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Ich werde dich daran erinnern.
Dann war er plötzlich wieder fort. Auraya schüttelte den Kopf. Manchmal verstand sie Chaira nicht, aber andererseits war er im Gegensatz zu ihr ein Gott. Sie erhob sich und trat vor den Wandbehang, mit dem der Eingang der Laube bedeckt war.
»Owaya fliegen?«
Sie drehte sich zu Unfug um, der zu dem Schluss gekommen war, dass einer der Körbe, die von der Decke der Laube hingen, ein annehmbarer Schlafplatz sei. Nur seine Nase lugte über den Rand des Korbes hinaus.
»Ja. Auraya allein fliegen. Zu einem gefährlichen Treffen. Unfug hierbleiben. In Sicherheit.«
Unfug dachte lange über diese Mitteilung nach, dann verschwand seine Nase im Korb. Seit er vor der Schlacht entführt worden war, nahm er alle Warnungen vor möglichen Gefahren sehr ernst.
»Unfug bleiben«, murmelte er.
Auraya trat erleichtert ins Freie und machte einen Schritt auf die Sprecherlaube zu. Sofort kam eine kleine Schar Siyee-Kinder aus dem Wald gestürzt und umringte sie. Als sie sie mit Blumen überhäuften, lachte sie überrascht. Einige der Kinder streckten tollkühn die Hände aus, um sie zu berühren. Plötzlich stieß ein Junge einen durchdringenden Pfiff aus, und sie huschten davon. Auraya fing genug von dem Durcheinander ihrer Gedanken auf, um zu erfahren, dass ein Erwachsener näher kam und die Kinder klugerweise vorher die Flucht ergriffen. Sie drehte sich um und sah Sprecherin Sirri auf sich zukommen.
Die Anführerin der Siyee lächelte. »Seit deinem letzten Besuch bist du hier eine leibhaftige Legende. Die Sänger unter uns haben ein Lied mit dem Titel ›Die weiße Dame‹ geschrieben, ein Lied, in dem du die Pentadrianer ganz allein besiegst.«
Auraya kicherte. »Das ist den anderen Weißen gegenüber ein wenig ungerecht.«
Sirri zuckte die Achseln. »Ja. Aber es hat tatsächlich so ausgesehen, als hättest du den Pentadrianern den Todesstoß versetzt.«
»Die Angelegenheit war ein wenig… komplizierter«, erwiderte Auraya. »Die anderen haben auf weniger augenfällige Weise angegriffen. Es war reiner Zufall, dass ich diejenige war, die den Fehler des Feindes ausnutzen konnte.«
»Du meinst den Augenblick, in dem die Zauberin abgelenkt war?«
»Ja.« Auraya bemerkte Sirris schiefes Lächeln und schaute genauer hin. Was sie sah, überraschte und erheiterte sie gleichermaßen. »Tryss war die Ablenkung? Er hat sie angegriffen?«
Sirri nickte. »Das sagt er, und ich habe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.«
»Wie unglaublich mutig«, flüsterte Auraya und dachte an den schüchternen jungen Erfinder des Jagdgeschirrs, das die Siyee jetzt benutzten.
»Es wissen nicht viele davon. Er möchte nicht, dass man ihn als Helden feiert, während so viele von uns den Tod gefunden haben. Der Krieg hat ihn verändert. Ich denke, er hat Schuldgefühle, weil er etwas geschaffen hat, das es den Siyee ermöglichte, in einem Krieg zu kämpfen, bei dem so viele ums Leben gekommen sind. Ich versuche immer wieder, ihm zu erklären, dass es nicht seine Schuld ist, aber…« Sie blickte zu Auraya auf und runzelte die Stirn; plötzlich fragte sie sich, ob auch Auraya von Schuldgefühlen belastet wurde. Als Auraya ihr in die Augen sah, wandte Sirri den Blick ab. »Ich bin hergekommen, um dir mitzuteilen, dass die Sprecher, die sich freiwillig gemeldet haben, am Versammlungsort warten«, sagte Sirri.
Auraya runzelte die Stirn. »Bin ich zu spät aufgebrochen?«
»Nein. Sie sind zu früh gekommen. Wahrscheinlich wollen sie die Angelegenheit möglichst schnell hinter sich bringen.«
»Dann sollten wir sie nicht länger warten lassen.«
Sirri geleitete Auraya bis zum Rand des Waldes, dann erhob sie sich in die Luft. Auraya folgte ihr, und gemeinsam glitten sie auf die Flache hinab, wo die beiden Sprecher, Iriz und Tyzi, warteten. In der Nähe standen mehrere Jäger, die Geschirre trugen. Sirri wollte, dass sie sie begleiteten, falls die Sprecher von Auraya getrennt wurden und die pentadrianischen Vögel angriffen.
Iriz und Tyzi verströmten gleichzeitig Furcht und Entschlossenheit, als sie Auraya begrüßten.
»Auf welche pentadrianische Gruppe werden wir als erste treffen?«, fragte Iriz.
»Welcher Gruppe sollten wir uns eurer Meinung nach zuerst nähern?«, fragte Auraya zurück.
»Derjenigen, die uns am nächsten ist«, antwortete Tyzi. »Je eher wir ihnen sagen, dass sie unser Land verlassen sollen, umso besser.«
»Dann nehmen wir uns also die Gruppe vor, die auf dem Weg nach Nordosten ist.«
»Die Gruppe im Norden ist dem Gebiet eines Stammes näher«, bemerkte Iriz. »Wenn die Pentadrianer sich für einen Angriff entscheiden, werden wir diesen Stamm vielleicht nicht rechtzeitig warnen können.«
»Die Gruppe im Norden wird nicht wissen, was die andere Gruppe tut«, meinte Tyzi. Dann sah sie Auraya zweifelnd an. »Oder ist das ein Irrtum?«