Nein. Ich muss gesund werden, sagte sie sich. Ich muss wieder auf den Beinen und bereit sein, wenn Vater kommt… oder wenn sich mir eine Chance bietet, allein zu fliehen.
Der Landgeher hörte auf, sie mit Wasser zu bespritzen. Er richtete sich auf und trat an den Rand des Beckens. Dort griff er nach einem großen Tablett und watete wieder zu ihr hinüber.
Er begann von neuem zu sprechen, und seine Stimme klang leise und wohlwollend. Er nahm etwas von dem Tablett und hielt es ihr hin.
Es war roher Fisch. Sie verzog das Gesicht, und er stellte das Tablett sofort wieder beiseite.
Als Nächstes hielt er ihr ein Stück gekochten Fisch hin. Sie spürte, wie ihr Magen knurrte, und streckte die Hand danach aus, dann zögerte sie.
Was ist, wenn der Fisch vergiftet ist?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sah den Mann argwöhnisch an. Er lächelte und murmelte einige fremdartige Worte. Er versuchte, sie zu beruhigen.
Was spielt es für eine Rolle?, dachte sie. Wenn ich nichts esse, werde ich ohnehin sterben.
Sie nahm das Stück Fisch und schob es sich in den Mund. Es schmeckte wunderbar. Sie schluckte, und eine tiefe Erleichterung breitete sich in ihrem Körper aus.
Der Landgeher bot ihr Stück um Stück an, dann stellte er das Tablett beiseite. Sie hatte noch immer Hunger, doch ihr Magen schien zu viel zu tun zu haben, als dass er mehr hätte vertragen können. Der Mann kam näher. Ein Stich der Furcht durchzuckte sie, als er sich neben ihr im Wasser auf die Knie niederließ. Er sprach mit ernster Miene auf sie ein, dann blickte er über seine Schulter hinweg zu dem geschlossenen Metalltor des Raums. Als er sich wieder umdrehte, sah er ihr fest in die Augen und begann von neuem zu sprechen. Diesmal schwangen starke Gefühle in seiner Stimme mit. Sie erkannte Zorn, wusste aber, dass er nicht gegen sie gerichtet war. Der Mann deutete auf den Raum, dann auf sie und schließlich auf sich selbst, bevor er mit den Fingern zwei Paare von gehenden Beinen nachahmte.
Die Bedeutung schlug über ihr zusammen wie eine Woge kalten Wassers. Er würde sie retten.
Tränen traten ihr in die Augen. Überwältigt von Dankbarkeit, schlang sie die Arme um ihn und begann zu schluchzen. Endlich. Er mochte nicht ihr Vaters sein, aber er würde sie retten. Er klopfte ihr auf den Rücken, wie ihr Vater es tat, wenn sie verletzt oder aufgeregt war. Dieser Gedanke zog weitere Tränen nach sich.
Dann spürte sie, wie er sich versteifte, und er schob sie sanft von sich. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Als ihr Blick klarer wurde, bemerkte sie eine Gestalt hinter dem Metalltor, und das Blut gefror ihr in den Adern.
Es war der Landgeher, der sie hierhergebracht hatte, und auf seinem Gesicht lag ein finsterer Ausdruck.
Hatte er den netten Landgeher belauscht, wie er davon sprach, dass er sie retten wollte? Sie musterte den netten Landgeher eindringlich. Er klopfte ihr sanft auf die Schulter und deutete auf das Tablett, um sie aufzufordern, mehr zu essen, dann wandte er sich zu dem Mann um, der sie gefangen hatte. Nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, kletterte der nette Landgeher aus dem Becken und ging zum Tor.
Sie unterhielten sich noch eine Weile, und Imi konnte den unterdrückten Ärger in ihren Stimmen hören. Sie ließ sich ins Wasser sinken, und ihre Hoffnung fiel in sich zusammen, denn die Stimmen der beiden Männer verrieten deutlich, dass sie miteinander stritten.
Als Auraya, Sprecherin Sirri und die anderen Siyee im Offenen Dorf landeten, war in der Ferne das unheilverkündende Grollen von Donner zu hören. Eine Schar ängstlicher Siyee begrüßte sie, darunter die Sprecher und Stammesabgesandten, die zurückgeblieben waren.
»Die Pentadrianer verlassen Si«, erklärte Sirri. Pfiffe und Jubelrufe folgten, und sie musste die Stimme heben, um sich über den Lärm hinweg Gehör zu verschaffen. »Sie behaupten, sie seien nach Si gekommen, um mit uns Frieden zu schließen, aber Auraya hat ihre wahren Absichten in ihren Gedanken gelesen. Sie wollten uns lediglich überreden, uns ihren Göttern anzuschließen. Wir haben sie weggeschickt.«
»Wie können wir sicher sein, dass sie nicht zurückkommen und uns angreifen werden?«, fragte ein Sprecher.
»Eine solche Gewissheit gibt es nicht«, antwortete Sirri. »Wir haben Späher ausgesandt, die sie beobachten. Wir sind für einen Angriff ebenso gut gerüstet wie zuvor, nur dass wir jetzt Aurayas Hilfe haben.«
Auraya gelang es, sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen. Würde Juran ihre Rückkehr nach Jarime wünschen, jetzt, da es so aussah, als würden die Pentadrianer abziehen? Sie beugte sich zu Sirri vor.
»Sie werden die ganze Geschichte hören wollen«, murmelte sie, »aber ihr drei, du, Iriz und Tyzi, seid erschöpft. Warum schlägst du ihnen nicht eine Zusammenkunft später am Abend vor, um ihnen dann alles zu erzählen?«
Sirri sah sie an und lächelte. »Eine gute Idee«, sagte sie aus dem Mundwinkel. »Es war eine lange Reise«, fügte sie dann an die Menge gewandt hinzu. »Ich glaube, meine Begleiter und ich wären dankbar für ein wenig Zeit, um uns auszuruhen und zu erfrischen. Wollen wir uns nach dem Essen in der Sprecherlaube noch einmal zusammensetzen?«
Die Stammesanführer nickten zustimmend. Auraya fing eine Woge der Erleichterung von Iriz auf.
»Wir werden euch dann alles berichten«, fügte Sirri hinzu.
Die Menge zerstreute sich. Als Auraya auf ihre Laube zuging, gesellte Sirri sich zu ihr.
»Ich fühle mich, als könnte ich eine ganze Woche lang schlafen«, gestand Sirri, als sie sich ein wenig von den Leuten entfernt hatten. »Ich bin nicht daran gewöhnt, lange Strecken zurückzulegen. Meine Position hält mich hier fest.« Sie hielt inne. »Trotzdem bezweifle ich, dass ich überhaupt ein Auge zutun werde.«
»Ich würde auch nicht gut schlafen, wenn mein Sohn die Späher anführte, die die Pentadrianer beobachten. Aber Sreil ist ein vernünftiger junger Mann. Er wird keine Risiken eingehen.«
Sirri sah Auraya ängstlich an. »Glaubst du, dass die Pentadrianer das Land wirklich verlassen werden?«
Auraya schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe ein Gedankengespräch zwischen der Anführerin und ihrem Auftraggeber aufgefangen. Er hat ihr befohlen, fortzugehen, hat ihr aber gleichzeitig mitgeteilt, dass seine Befehle sich ändern könnten. Ich halte es nicht für wahrscheinlich. Ich bezweifle, dass die Pentadrianer einen weiteren Krieg beginnen werden, indem sie Si angreifen, aber ich würde die Möglichkeit nicht als vollkommen unwahrscheinlich abtun.«
Sirri seufzte. »Es gefällt mir nicht, dass wir von einem Angriff vielleicht erst Tage später erfahren würden.«
Auraya nickte. »Mir gefällt es ebenso wenig.«
»Je eher wir eigene Priester und Priesterinnen haben, umso besser.«
»Ja.«
Inzwischen waren sie vor Aurayas Laube angelangt.
»Versuch trotzdem, dich ein wenig auszuruhen«, ermahnte Auraya die Anführerin der Siyee sanft. »Selbst wenn du dich in irgendein Versteck zurückziehen musst, um nicht gestört zu werden.«
Sirri lachte leise. »Es ist durchaus möglich, dass ich genau das werde tun müssen.« Sie sah sich um. Es standen noch immer einige Siyee in der Nähe. »Ja. Das ist eine weitere gute Idee. Wir sehen uns dann nach dem Abendessen.«
Auraya lächelte, als Sirri in den Wald hineinging. Sie schob den Türvorhang ihrer Laube beiseite und trat ein. Als sie in der Mitte des Raums stand, konzentrierte sie ihren Geist auf ihren Ring.
Jur…
Etwas fiel auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und stieß dann einen Seufzer der Erleichterung aus, als in unbehaglicher Nähe zu ihrem Ohr eine hohe Stimme erklang.
»Owaya! Owaya! Owaya!«
»Ja, Unfug«, sagte sie und löste den Veez von ihrem Hals. »Ich bin wieder da. Und ich bin gesund und munter.« Das Tier klammerte sich mit zuckenden Schnurrhaaren an ihren Arm. »Und ja, ich würde auch gern mit dir spielen, aber im Augenblick muss ich zuerst einmal mit Juran reden.«