Als sie sich hinsetzte, ließ er sie los und rollte sich auf ihrem Schoß zusammen. Sie holte tief Luft und suchte abermals Jurans Geist.
Auraya? Ich dachte mir schon, dass du es warst.
Ja. Ich habe soeben das Offene Dorf erreicht. Juran hatte die Auseinandersetzung telepathisch verfolgt. Ich habe während des ganzen Rückwegs über die Dinge nachgedacht, die ich in Erfahrung gebracht habe. Hast du Zeit, darüber zu sprechen?
Ja. Also, zu welchen Schlüssen bist du gekommen?
Die Frau, der wir begegnet sind, glaubt, ihr Vorgesetzter – Nekaun – sei der Anführer der Pentadrianer. Sie haben bereits einen Ersatz für Kuar gewählt.
So sieht es aus, pflichtete Juran ihr bei. Entweder, die Pentadrianer bringen in furchterregendem Tempo mächtige Zauberer hervor, oder sie haben einen weniger mächtigen Zauberer gewählt, um das Vertrauen ihrer Anhänger zurückzugewinnen.
Letzteres kommt mir wahrscheinlicher vor. Diese Pentadrianer sind nach Si geschickt worden, um sich mit den Siyee anzufreunden. Sie sollten die Siyee dazu bringen, sich von dem Zirkel der Götter abzuwenden und stattdessen in Zukunft ihren eigenen fünf Göttern zu huldigen. Hältst du es für möglich, dass dieser Nekaun ähnliche Gruppen mit demselben Auftrag in andere Länder Ithanias geschickt hat?
Vorstellbar wäre es. Wir werden wachsam sein müssen.
Wenn ich mir sicher sein könnte, dass die pentadrianischen Götter nicht existieren, würde ich sagen, dass sie kaum Erfolgschancen hätten. Haben die Götter inzwischen mehr erfahren?
Sie haben nicht davon gesprochen. Was ist mit Chaia? »Plaudert« er immer noch mit dir?
Ja. Allerdings hat er über dieses Thema nicht gesprochen.
Hast du ihn gefragt?
Ja, aber er versteht sich bemerkenswert gut darauf, Fragen zu ignorieren, die er nicht beantworten will.
Wenn er könnte, würde er es dir sagen.
Meinst du? Er kann manchmal ein sehr aufreizender Gefährte sein.
Du kannst dich glücklich schätzen, dass er dich so oft mit seiner Anwesenheit beehrt. Er hat eine hohe Meinung von dir, Auraya. Genieße es; es ist vielleicht nicht von Dauer.
Sie zuckte zusammen. War sie undankbar? Sie konnte nicht offenbaren, warum Chaias Besuche so… so … Ihr fiel kein Wort ein, mit dem sie die Mischung aus Verärgerung und Neugier, die sie empfand, hätte beschreiben können.
Juran hat gut reden, wenn er mir rät, Chaias Besuche zu genießen. Er hat wahrscheinlich noch nie damit fertigwerden müssen, dass ein Gott ihm verführerische Worte ins Ohr murmelt, dachte sie. Dann runzelte sie die Stirn. Oder irre ich mich da? Sie schüttelte den Kopf. Besinne dich wieder auf das Thema, ermahnte sie sich.
Ich würde gern hierbleiben, bis wir uns sicher sein können, dass die Pentadrianer Si verlassen haben.
Ja, das solltest du tun.
Sie seufzte vor Erleichterung. Er hatte sich anfänglich ihrer Idee, den Siyee zu Hilfe zu eilen, widersetzt, daher hatte sie erwartet, dass er sie jetzt nach Jarime zurückrufen würde.
Ich werde aufbrechen, sobald die Pentadrianer fort sind.
Nachdem sie sich aus Jurans Geist zurückgezogen hatte, nahm sie sich ein wenig Zeit, um Unfug zu kraulen. Als Nächstes sollte sie feststellen, wie es Danjin erging. Allerdings hatte sich irgendetwas im Raum verändert. Gerade als ihr bewusst wurde, was es war, erklang eine Stimme in ihren Gedanken.
Danjin ist beschäftigt, sagte Chaia. Und wie du gestern sagtest, die Arbeit kommt vor dem Vergnügen. Du hast fürs Erste genug getan – oder willst du für den Rest der Ewigkeit ohne Pause weiterarbeiten?
Auraya lächelte.
Nein, es sei denn, du würdest es von mir verlangen.
Das war nie meine Absicht. Unsere Auserwählten sollten von Zeit zu Zeit einfach das Leben genießen. Noch besser wäre es, wenn wir es gemeinsam genießen könnten.
Sie spürte eine flüchtige Berührung von Magie an ihrer Schulter, und ein Schaudern überlief sie. Es war unmöglich, nicht an das Potenzial zu denken, das solche Gefühle vielleicht haben würden, wenn sie stärker wären oder wenn sie sich von ihrem Hals aus zu anderen Stellen ihres Körpers ausbreiteten …
Du brauchst nur zu fragen, dann werde ich es dir zeigen.
Sie dachte an Jurans Worte.
Aber das konnte er nicht gemeint haben.
Nein, aber in einem Punkt hat er recht: Ich ziehe dich allen anderen vor.
Ein unsichtbarer Finger berührte ihre Lippen und zeichnete langsam eine Linie von ihrem Hals bis hinunter zu ihrer Brust und ihrem Bauch… Dann verlor sich das Gefühl. Auraya stellte fest, dass ihr Atem in schnellen Stößen ging.
Ein Gott, ging es ihr durch den Kopf. Warum nicht? Widersetze ich mich ihm nur, weil ich nicht abermals einen unpassenden Geliebten anziehen will?
Nicht unpassend, korrigierte Chaia sie. Ungewöhnlich vielleicht, aber nichts, dessen du dich schämen müsstest.
Anders als bei Leiard, dachte sie. Aber trotzdem… kompliziert.
Nicht so kompliziert, wie du befürchtest. Ich werde nicht vor dir weglaufen, wie er es getan hat, Auraya.
Sie spürte seine Berührung auf ihren Schultern und schloss die Augen.
Schick ihn in die Vergangenheit, damit er zu einer Erinnerung wird, auf die du voller Zuneigung zurückblicken kannst, wisperte Chaia.
Seine unsichtbaren Finger glitten über ihre Brüste.
Komm mit mir an jenen Ort zwischen Träumen und Wachen…
Sie spürte seinen Mund auf ihrem. Zuerst war es nur eine schwache Berührung von Magie, die jedoch zu etwas Greifbarerem wurde, als sie in eine Traumtrance versank.
… und beginne eine neue Zeit mit mir.
Ja, flüsterte sie und streckte die Hände nach der leuchtenden Gestalt vor ihr aus. Zeig mir, wie es sein könnte.
Eine Welle der Wonne schlug über ihr zusammen, ein Gefühl, das intensiver war als alles, was sie je zuvor erlebt hatte.
24
Reivan zog gähnend den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch hervor. Sie war bis weit in die Nacht aufgeblieben, um Imenja bei der Bewertung eines Handelsabkommens zu helfen, und jetzt war sie mit ihren morgendlichen Verpflichtungen in Verzug geraten. Vom vergangenen Tag waren nagende Kopfschmerzen zurückgeblieben, und das stetige Heulen des Staubsturms draußen – der schon seit Tagen wehte – ging ihr langsam auf die Nerven.
Mit ihrer Weihe zur vollen Götterdienerin mochte ihre Ausbildung ein Ende gefunden haben, aber die Zeit, die sie mit dem Unterricht verbracht hatte, war schnell von neuen Pflichten beansprucht worden. Imenja hatte ihr größere Verantwortung übertragen, und dazu gehörte auch, Menschen zu befragen, die um eine Audienz bei der Zweiten Stimme ersucht hatten. Ihre Aufgabe war es zu entscheiden, ob das Anliegen oder der Status des Bittstellers wichtig genug war, um ein Treffen zu rechtfertigen.
Man hatte ihr einen Raum in der Nähe des Sanktuariums gegeben, in dem sie diese Leute befragen konnte. Der Raum verfügte über zwei Eingänge: einen öffentlichen und einen privaten. Durch den privaten Eingang konnte sie kommen und gehen, ohne von den Menschen, die vor dem öffentlichen Eingang warteten, angesprochen zu werden.