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Außerdem hatte man ihr einen Gehilfen zugewiesen, Götterdiener Kikarn. Er war ein hässlicher Mann und so mager, dass er beängstigend streng wirkte, aber Reivan hatte festgestellt, dass er einen scharfen Verstand besaß. Als sie nun auf ihrem Stuhl Platz nahm und er eine besonders lange Liste auf ihren Tisch legte, unterdrückte sie ein Stöhnen. Heute muss ja ein hübsches Gedränge draußen im Flur herrschen, dachte sie mit gequälter Miene.

»Was hat der Wind denn heute Morgen hereingeweht?«

Kikarn lachte leise. »So ziemlich alles, angefangen von Goldstaub bis zu Unrat«, antwortete er. »Der Kaufmann Ario möchte sich die Zweite Stimme mit einer Bestechung – äh, einer großen Spende – gewogen machen.«

»Wie viel?«

»Genug, um einen neuen Tempel zu bauen.«

»Beeindruckend. Was will er als Gegenleistung?«

»Nichts natürlich.«

Sie lächelte. »Wir werden sehen. Was noch?«

»Eine Frau, die Palastdomestikin in Kave war, behauptet, die Gemahlin des Hochfürsten huldige seit neuestem einem toten Gott. Sie sagt, sie habe Beweise dafür.«

»Sie muss sich ihrer Sache sicher sein, sonst würde sie damit nicht an die Zweite Stimme herantreten.«

»Es sei denn, sie weiß nichts von der Fähigkeit der Stimmen, Gedanken zu lesen.«

»Wir werden sehen.« Sie blickte auf die Liste hinab und stutzte, als sie zu einem vertrauten Namen kam. »Denker Kuerres?«

»Er will zu dir.«

»Nicht zu Imenja?«

»Nein.«

»Was führt ihn hierher?«

»Das will er nicht sagen, aber er beteuert, dass das Leben eines Menschen davon abhängen könnte.«

Natürlich. Es musste schon ein Menschenleben auf dem Spiel stehen, bevor die Denker sich dazu herablassen würden, noch einmal mit mir zu sprechen, überlegte sie.

»Und dann wären da noch die anderen.«

»Sie sind nicht so wichtig wie die ersten beiden.«

»Die ersten beiden werden einige Zeit beanspruchen. Schick Kuerres herein. Ich habe nie erlebt, dass er übertrieben oder gelogen hätte. Höchstwahrscheinlich wollen sie wissen, was ich mit meinen Büchern und Instrumenten gemacht habe.«

Kikarn neigte den Kopf. Als er zur Tür hinüberging, vergegenwärtigte sich Reivan noch einmal, was sie über Kuerres wusste. Er war einer der stilleren Denker. Er war nie unfreundlich zu ihr gewesen, obwohl er ihr auch keine große Beachtung geschenkt hatte. Stirnrunzelnd durchforstete sie ihr Gedächtnis nach Dingen, die sich als nützlich erweisen könnten. Er hatte Familie. Und er besaß eine Menagerie exotischer Tiere.

Das war alles, woran sie sich erinnern konnte. Sie erkannte den nicht mehr ganz jungen Mann, der nun den Raum betrat, aber er benahm sich ganz anders, als sie es in Erinnerung hatte. Er sah sich mit bleichem Gesicht und ineinander verschlungenen Händen nervös im Raum um.

»Denker Kuerres«, sagte sie. »Es ist schön, dich wiederzusehen. Nimm Platz.«

»Götterdienerin Reivan«, erwiderte er und zeichnete einen Stern auf seine Brust. Er blickte kurz zu Kikarn hinüber, dann trat er vor und ließ sich auf den Stuhl sinken.

»Was führt dich ins Sanktuarium?«, fragte sie.

»Ich… ich muss ein Verbrechen melden.«

Sie stutzte. Sie hatte angenommen, dass es ihn nervös machte, im Sanktuarium zu sein und mit wichtigen Leuten zu sprechen. Jetzt fragte sie sich langsam, ob er vielleicht in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte.

»Sprich weiter«, sagte sie.

Er holte tief Luft. »Wir – die Denker – sind gestern von einem Händler angesprochen worden. Von einem reichen Händler, der Informationen wollte und bereit war, großzügig dafür zu zahlen.« Kuerres hielt inne und sah ihr in die Augen. »Er wollte etwas über die Elai erfahren.«

»Das Meeresvolk? Einige der Denker glauben nicht einmal, dass dieses Volk existiert.«

»Ja. Wir haben ihm alles erzählt, was wir wissen, aber er war nicht zufrieden damit. Er fragte, ob irgendjemand von uns Kenntnisse über die Haltung wilder Tiere hätte, und ich habe ihm meine Dienste angeboten.«

Reivan lächelte. »Lass mich raten: Er hat irgendein großes, fremdartiges Meeresgeschöpf gekauft und geglaubt, es könnte der Ursprung der Legende sein?«

Kuerres schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Ich habe mich erboten, ihm zu helfen. Ich war neugierig. Er hat mich in sein Haus mitgenommen. Was ich dort vorfand, war…« – er schauderte – »… grauenhaft. Ein krankes, verschüchtertes Kind – aber ein Kind, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Dicke schwarze Haut. Gänzlich unbehaart. Große Hände und Füße mit Häuten zwischen Fingern und Zehen.«

»Füße? Kein Fischschwanz?«

»Kein Fischschwanz. Auch keine Kiemen. Aber eindeutig ein… ein Geschöpf des Wassers. Ich habe keinen Zweifel, dass dieses Kind dem Volk der Elai angehört.«

Erregung stieg in Reivan auf, doch aus Gewohnheit unterdrückte sie das Gefühl. Denker ließen nicht zu, dass Gefühle die Oberhand über ihren Verstand gewannen. Es war nur allzu leicht, sich etwas einzureden, wenn man es wirklich glauben wollte.

»Hat dieser Kaufmann erzählt, wo er sie gefunden hat?«

»Nein. Er hat sich darüber beklagt, dass sie ein Vermögen gekostet habe, und er hat von ihr gesprochen, als sei sie ein Tier.« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Sie ist kein Tier. Sie ist ein Mensch. Indem er sie gekauft hat und behält, bricht er unsere Gesetze.«

»Die Versklavung einer Unschuldigen.« Sie nickte. »Wer ist dieser Händler?«

Kuerres rümpfte die Nase. »Devlem Radmacher. Er ist Genrianer. Er hat vor dem Krieg seinen Namen geändert.«

Reivan nickte. »Ich kenne ihn. Ich werde diesen Vorfall später der Zweiten Stimme vortragen, und ich bin davon überzeugt, dass sie jemanden…«

»Du musst jetzt etwas unternehmen!«, unterbrach er sie. »Er hat Verdacht geschöpft, dass ich ihn anzeigen werde, dessen bin ich mir sicher. Er könnte sich des Mädchens entledigen – es töten -, bevor du dort ankommst!«

Er sah sie ernst an, offensichtlich zutiefst besorgt um die Sicherheit dieses Meereskindes. Reivan legte die Hände zusammen und dachte nach.

Wenn der Kaufmann glaubte, das Kind sei ein Tier, würde er einwenden, dass er kein Verbrechen begangen habe. Trotzdem würde er das Risiko nicht eingehen, dass andere zu demselben Schluss kamen wie Kuerres. Die Strafe für die Versklavung eines Unschuldigen sah vor, dass der Betreffende seinerseits versklavt wurde. Er wird sie entweder töten oder an einen anderen Ort bringen, je nachdem, wie viel sie ihn gekostet hat. Wie er sich auch entscheiden mag, je schneller wir handeln, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir das Mädchen finden werden, bevor er ihm etwas antut.

Aber es gehörte nicht zu ihren Pflichten, das Sanktuarium zu verlassen, um ein Kind zu retten, und sie hatte keine Befugnis, das Haus des Mannes durchsuchen zu lassen. Sie brauchte Imenjas Hilfe. War diese Angelegenheit wichtig genug, um die Zweite Stimme zu stören?

Bin ich einfach nur neugierig zu erfahren, ob dieses Kind eine Elai ist?

Ob sie eine Elai ist oder nicht, sie wird wie ein Tier gehalten. Imenja wird etwas dagegen unternehmen wollen.

Sie holte tief Luft, legte eine Hand auf ihren Sternenanhänger und schloss die Augen.

Imenja?

Sie wartete, dann rief sie abermals. Da sie nicht über nennenswerte Talente bei der Benutzung von Magie verfügte, brauchte sie häufig mehrere Versuche, bevor es ihr gelang, sich über den Sternenanhänger mit Imenja in Verbindung zu setzen. Schließlich kam eine Antwort.

Bist du das, Reivan?

Ja.

Guten Morgen. Was ist der Grund dafür, dass du mich so früh rufst?