Die Meldung eines Verbrechens.
Erzähl mir davon.
Sie wiederholte Kuerres’ Geschichte von dem Meeresmädchen.
Das ist schrecklich. Du musst sie befreien. Wenn das Mädchen nicht dort ist, bring den Kaufmann zu mir. Ich werde aus seinen Gedanken lesen, wo sie zu finden ist.
Das werde ich tun. Ich denke, dass ich möglicherweise Hilfe brauchen werde.
Ja. Nimm Kikarn mit. Und melde dich bei mir, sobald du sie gefunden hast.
Ja.
Reivan öffnete die Augen und sah, dass Kuerres sie neugierig beobachtete. Sie verkniff sich ein Lächeln.
»Wir werden uns sofort um diese Angelegenheit kümmern«, erklärte sie. Götterdiener Kikarn schnalzte leise mit der Zunge, als wolle er protestieren. Wahrscheinlich dachte er an die Besucher, die darauf warteten, zu ihr vorgelassen zu werden. »Götterdiener Kikarn. Sag der dekkanischen Domestikin, dass sie bis zu meiner Rückkehr warten soll, und den anderen teile bitte mit, dass ich mich um eine dringende und unerwartete Angelegenheit kümmern muss und sie morgen früh empfangen werde. Sorg dafür, dass Ario morgen als Erster vorgelassen wird.«
Er lächelte und neigte den Kopf. Reivan erhob sich, und Kuerres sprang auf.
»Möchtest du mich begleiten?«, fragte sie ihn.
Er zögerte. »Ich sollte eigentlich nach Hause zurückkehren«, erwiderte er zweifelnd.
Sie ging um den Schreibtisch herum. »Dann tu das. Ich werde dir eine Nachricht schicken, wenn wir zurückkehren. Ich werde dazu einen gewöhnlichen Boten benutzen, statt jemanden aus dem Sanktuarium damit zu beauftragen.«
Er wirkte erleichtert. »Vielen Dank, Reivan – Götterdienerin Reivan.«
Sie lächelte. »Ich danke dir, dass du mit dieser Information ins Sanktuarium gekommen bist, Denker Kuerres. Du bist ein guter Mann, und ich hoffe, dass deine Entscheidung dir nicht zum Schaden gereichen wird.«
»Ich habe Leute, die mich unterstützen werden«, versicherte er ihr. Er ging zur Tür hinüber, dann hielt er noch einmal inne und drehte sich zu ihr um. »Genauso wie es Leute gibt, die dich unterstützen.«
Reivan sah ihm überrascht nach und wünschte, sie hätte sich dazu überwinden können, ihn nach den Namen jener zu fragen, die auf ihrer Seite standen. Aber sie wusste, dass er ihr keine Antwort gegeben hätte.
Mit Tyves Hilfe, der ihm ständig Ratschläge bezüglich des vor ihm liegenden Terrains lieferte, war Mirar schneller vorangekommen als während seiner gemeinsamen Reise mit Emerahl nach Si. Der Junge kreiste über ihm, warnte ihn vor Schluchten, die keinen Ausgang hatten, und leitete ihn in Täler, die leicht begehbar waren. Jeden Abend schlüpfte Tyve davon, um seinem Dorf einen Besuch abzustatten, und jeden Morgen kehrte er mit größerer Besorgnis zurück. Weitere Mitglieder seines Stammes waren krank geworden. Ein Säugling war gestorben, dann seine Mutter, die von einer schwierigen Geburt geschwächt gewesen war. Veeces Zustand verschlechterte sich immer schneller. Mit jedem Bericht wuchs Mirars Gewissheit, dass die Siyee eine Epidemie erlebten. Er wanderte vom ersten Morgengrauen bis zur Abenddämmerung und machte nur Halt, um zu essen und zu trinken, denn er wusste, dass sich die Situation in dem Dorf von Stunde zu Stunde verschlimmerte.
Er hatte schon viele Epidemien erlebt. Verletzungen, Wunden und weniger schwere Krankheiten konnte ein Zauberer mit Kenntnissen der Heilkunst und magischer Stärke ohne weiteres heilen, aber wenn sich eine Seuche schnell ausbreitete, dauerte es nie lange, bis es zu wenige Heiler gab, um alle Opfer zu behandeln – falls die Heiler nicht selbst mit der Krankheit zu kämpfen hatten.
Und hier in Si bist du der Einzige, fügte Leiard hinzu.
Mirar seufzte. Wenn ich die Siyee doch nur hätte daran hindern können, das Dorf zu verlassen und die Krankheit auf diese Weise weiterzutragen.
Er hatte seinen Rat vorausgeschickt, aber die Nachrichten, mit denen Tyve zurückgekehrt war, waren erschreckend gewesen. Einige Familien waren bereits in andere Dörfer geflohen. Man hatte Boten ins Offene Dorf geschickt.
Sie sind bereits in Panik, sagte Leiard. Du wirst ebenso viel damit zu tun haben, gegen ihre Angst vor der Krankheit zu kämpfen wie gegen die Krankheit selbst.
Mirar antwortete nicht. Der felsige Hang, den er hinabstieg, hatte sich in eine riesige, grob behauene Treppe verwandelt, die seine gesamte Aufmerksamkeit verlangte. Er sprang von einem Felsvorsprung zum nächsten, und jede Landung erschütterte seinen ganzen Körper.
Die Stufen wurden stetig flacher, während die Bäume um ihn herum höher wurden. Schon bald befand er sich auf ebenem, mit Blättern übersätem Boden, umringt von den Stämmen gewaltiger Bäume. Die Luft war feucht. In der Nähe plätscherte ein Bach, der sich immer wieder teilte, um sich an anderen Stellen erneut zu vereinen und Pfützen zu bilden.
Es war ein friedlicher Ort, der einen angenehmen Lagerplatz abgegeben hätte – abgesehen von dem deutlichen Geruch nach tierischen Exkrementen. Dies musste ein häufig benutzter Wildwechsel sein. Mirar dachte an den Grund für seine Reise und beschleunigte abermals seine Schritte.
Dann hörte er einen Siyee eine Warnung pfeifen und blieb stehen.
Er blickte auf und blinzelte überrascht, als er die Plattformen sah, die zwischen vielen Ästen über ihm erbaut worden waren. Gesichter spähten zu ihm herab, und er nahm Furcht, Hoffnung und Neugier wahr.
Er hatte das Dorf erreicht.
Ein Siyee kam von rechts auf ihn zugeschwebt. Es war Tyve.
»Einige Leute haben Seile aufgehängt, an denen du hinaufklettern kannst«, erklärte er Mirar. »Andere sind zu argwöhnisch dafür. Sie werden ihre Meinung ändern, sobald sie erfahren, dass du einige von uns geheilt hast.«
Mirar nickte. »Wie viele sind inzwischen erkrankt?«
»Ich weiß es nicht. Zehn, als ich das letzte Mal gezählt habe.«
»Bring mich zu dem, dem es am schlechtesten geht, dann flieg zu allen anderen Leuten und finde heraus, wie viele von ihnen krank sind oder die ersten Symptome zeigen.«
»Ja. Das werde ich. Folge mir.«
Tyve ging einige hundert Schritte zwischen den Bäumen hindurch. Von einer der Plattformen hing ein Seil herab. Mirar verknotete das Ende an den Griffen seiner Tasche.
»Wer lebt dort oben?«
Tyve schluckte und blickte hinauf. »Sprecher Veece und seine Frau sowie ihre Schwester.«
Der alte Mann. Mirar unterdrückte ein Seufzen. Selbst bei Landgehern rafft die Herzzehre am häufigsten die Alten und die ganz Jungen dahin.
Er griff nach dem Seil und kletterte daran hinauf.
Es war eine lange Strecke. Auf halben Weg nach oben blickte er hinab und dachte darüber nach, was geschehen würde, wenn er ausrutschte und abstürzte.
Ich würde mich ganz sicher verletzen. Wahrscheinlich sogar schwer. Wahrscheinlich so schwer, dass ein Sterblicher daran sterben würde.
Aber er würde nicht sterben. Sein Körper würde sich selbst heilen, auch wenn es eine Zeitlang dauern würde.
So wie es geschehen ist, nachdem man mich unter den Ruinen des Traumweberhauses in Jarime geborgen hat. Ich war damals nur ein Häufchen zerschmetterter Knochen, nicht ganz tot, nicht ganz lebendig. Mirar schauderte. Ein Geist, der einzig darauf konzentriert war, hinreichend lebendig zu bleiben, um zu genesen. Einige Teile von mir verwesten bereits, während andere heilten…
Denk an etwas anderes, bemerkte Leiard.
Mirar holte tief Luft und konzentrierte sich darauf, sich nach oben zu ziehen. Dort angelangt, schwang er sich auf die Plattform und blieb für eine Weile keuchend auf dem Rücken liegen. Sobald sein Atem wieder gleichmäßig ging, drehte er sich auf die Seite und entdeckte zwei ältere Siyee-Frauen in seiner Nähe.
Sie haben die Krankheit, stellte Leiard fest.