Er hatte recht. Die Gesichter der beiden Frauen waren bleich und schweißüberzogen, und ihre Lippen hatten eine bläuliche Färbung. Trotz des Namens, den die Krankheit trug, befiel sie in Wirklichkeit die Lunge. Während sie sie verzehrte, fiel es dem Opfer immer schwerer zu atmen, und sein Blut wurde schwächer. An manchen Orten war die Seuche als der Weiße Tod bekannt.
Mirar stand auf. Auf der Plattform war eine Laube erbaut worden. Von seiner hochgelegenen Position aus konnte er auf den meisten Plattformen Lauben entdecken – und viele Siyee, die ihn beobachteten. Er blickte zu den beiden Frauen hinüber.
»Ich bin Traumweber Wilar. Wenn es euer Wunsch ist, werde ich versuchen, Sprecher Veece zu helfen.«
Die beiden tauschten einen schnellen Blick, dann nickten sie.
»Danke, dass du gekommen bist. Er ist in der Laube«, krächzte eine der Frauen, dann wurde sie von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt.
Mirar nickte. »Ich werde meinen Beutel mit Heilmitteln heraufholen und anschließend hineingehen, um festzustellen, was ich für ihn tun kann.«
Er wandte sich ab und zog an dem Seil. Es schien Stunden zu dauern, bis sein Beutel über dem Rand der Plattform erschien. Er band ihn los und trug ihn in die Laube.
Auf einer Decke in der Mitte des Raums lag der Sprecher. Obwohl Mirar dem Mann noch nie begegnet war, bezweifelte er, dass er ihn unter diesen Umständen wiedererkannt hätte. Bleiche, blutleere Haut spannte sich über die Knochen des Mannes. Seine Lippen waren von einem dunklen Blauton, und sein Atem ging in schnellen, gequälten Stößen.
Er ist dem Tod nahe, murmelte Leiard.
Ja, stimmte Mirar ihm zu. Aber wenn ich ihn nicht rette, wird der Rest des Stammes mir dann noch vertrauen?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Am besten, du machst dich an die Arbeit.
Mirar öffnete seinen Beutel und begann den Inhalt zu durchstöbern. Ein dumpfer Aufprall draußen lenkte ihn ab. Er blickte auf und sah Tyve in der Tür stehen.
»Zwanzig sind krank, zwölf zeigen erste Beschwerden, und die anderen meinen, es gehe ihnen gut«, meldete der Junge.
Mirar nickte. Ich wünschte, Emerahl wäre hiergeblieben. Ich könnte ihre Hilfe gebrauchen. »Bleib in der Nähe«, wies er den Jungen an. »Es könnte sein, dass ich dich…« Er runzelte die Stirn und musterte Veeces Frau. »Woher holst du dein Wasser?«
Die Frau zeigte auf ein kleines Loch im Boden. Daneben befanden sich ein Eimer und ein Seil. »Wir ziehen es von dem Bach unten herauf.«
Er dachte an den gewundenen Lauf des Baches und an den Geruch von Exkrementen.
»Wo lasst ihr eure Körperausscheidungen?«
Sie zeigte abermals in die Tiefe. »Die werden weggespült.«
»Nicht schnell genug«, sagte er.
Sie zog die Schultern hoch. »Früher war es mal so, aber ein Erdrutsch weiter oben hat einen Teil des Wassers abgelenkt.«
»Das Erdreich sollte weggeschafft werden, oder ihr solltet das Dorf verlegen«, sagte er. »Tyve, hol mir etwas Wasser aus den höher gelegenen Bereichen des Dorfes und benutz kein Gefäß, das sich schon einmal im Bach befunden hat.«
Der Junge nickte und flog davon. Mirar spürte Ärger bei der Frau. Er sah ihr fest in die Augen.
»Es ist besser, sicherzugehen«, sagte er.
Sie senkte den Blick und nickte. Mirar wandte sich um, trat neben Veece und machte sich an die Arbeit.
25
Die Menge um die beiden Priester herum setzte sich größtenteils aus Kindern zusammen. Aus dem Geist der wenigen Erwachsenen las Auraya, dass die beiden für die Kinder des Offenen Dorfes ein steter Quell der Erheiterung waren, aber auch die Erwachsenen lauschten aufmerksam, denn ihnen war bewusst, dass die Dinge, die diese Landgeher sie lehrten, Einfluss auf die Zukunft ihres Volkes haben würden.
Hinter den Priestern saßen vier Siyee, die alle konzentriert zuhörten. Sie achteten nicht nur auf die Geschichten und Lektionen, sondern auch auf die Art, wie sie vorgetragen wurden. Die älteste war eine Frau von fünfunddreißig, der jüngste ein Knabe von fünfzehn. Alle hatten Hoffnung und Ehrgeiz, Priester oder Priesterin zu werden.
Eine Welle des Stolzes stieg in Auraya auf. Wenn sie gut lernten und die Prüfungen bestanden, würden ihre Träume wahr werden. Sie würden die ersten Priester und Priesterinnen der Siyee werden.
Der Priester, der gerade sprach – Priester Magen -, beendete seine Geschichte und schlug das Zeichen des Kreises. Er schaute zu Auraya hinüber, dann erklärte er dem Publikum, dass der Unterricht beendet sei. Die Kinder reagierten mit Enttäuschung, aber als sie aufstanden und mit ihren erwachsenen Begleitern darüber sprachen, was sie als Nächstes tun sollten, löste sich diese Enttäuschung schnell wieder auf. Auraya trat vor, um die Priester zu begrüßen. Sie machten das formelle, mit beiden Händen geschlagene Zeichen des Kreises, als sie sie begrüßten – etwas, das die angehenden Priester und Priesterinnen neugierig beobachteten.
»Heute hat sich eine größere Gruppe eingefunden«, bemerkte sie.
Danien nickte. »Ja. Ich glaube, es handelt sich um einige neue Kinder von einem Stamm, der hier zu Besuch ist.«
»Komm herein«, drängte Magen. »Hast du schon gegessen? Eine Frau hat soeben einige geröstete Girri hergeschickt, zum Dank für die Behandlung ihres gebrochenen Knöchels.«
»Nein, ich habe noch nichts gegessen«, antwortete Auraya. »Ist denn noch genug da?«
Magen grinste. »Mehr als genug. Die Siyee sind ausgesprochen großzügig.«
Der Priester winkte seine Schüler heran und führte sie dann alle in die große Laube, die die Siyee den Landgehern zur Verfügung gestellt hatten. Sie setzten sich auf hölzerne Stühle in der Mitte des Raums und reichten das Essen herum.
»Ihr habt die Sprache des Landes schnell erlernt«, bemerkte Auraya.
Danien nickte. »Wenn man bereits einige Sprachen spricht, wird es leichter, neue zu erlernen. Die Sprache der Siyee ist nicht allzu schwierig, sobald man erst einmal die Ähnlichkeiten zwischen ihr und den Sprachen der Landgeher entdeckt hat.«
»Ein junger Mann – Tryss – hat uns geholfen«, fügte Magen hinzu.
»Ah, Tryss«, sagte Auraya nickend. »Ein kluger Junge.«
»Auch deine Ratschläge, was Tabus, Sitten und Gebräuche betrifft, waren für uns von großem Wert«, erklärte Danien. »Ich habe daran gedacht…«
»Auraya von den Weißen?«
Alle Anwesenden wandten sich der Tür zu. Sprecherin Sirri stand im Eingang, und sie verströmte Sorge. Neben ihr stand ein junger Siyee. Er hatte schlechte Nachrichten gebracht, wie Auraya aus seinen Gedanken las. Eine Krankheit…
»Sprecherin Sirri«, sagte Magen und erhob sich. »Willkommen. Willst du dich mit deinem Begleiter zu uns setzen?«
Die Sprecherin zögerte, dann trat sie ein. »Ja. Das ist Reet aus dem Stamm vom Nordfluss.« Die anderen im Raum wurden vorgestellt, und der junge Mann nickte ihnen zu.
»Kommt und setzt euch«, sagte Magen und deutete auf zwei freie Stühle.
Sirri lächelte nicht, als sie Platz nahm. »Reet ist ins Offene Dorf gekommen, um Hilfe zu erbitten«, berichtete sie ihnen. »Sein Stamm leidet an einer Krankheit, von der sie noch nie gehört haben. Auch unsere Heiler haben etwas Derartiges noch nie gesehen, daher sind wir hergekommen, um dich zu fragen, ob du etwas darüber weißt.«
»Kannst du mir die Krankheit beschreiben, Reet?«, fragte Auraya.
Während der junge Mann von der Krankheit erzählte, die seine Familie befallen hatte, konzentrierte sie sich auf seinen Geist, und als sie die Symptome erkannte, überlief ein Frösteln.
»Ich weiß, wovon die Rede ist«, unterbrach sie ihn. Der Junge sah sie hoffnungsvoll an. Sie wandte sich zu Magen um. »Es ist die Herzzehre.«
»Der Weiße Tod«, sagte Magen, und seine Miene wurde grimmig. »Diese Krankheit taucht von Zeit zu Zeit unter Landgehern auf.«
Sirri sah Auraya an. »Kennst du ein Gegenmittel?«
»Ja und nein«, antwortete Auraya. »Es gibt Möglichkeiten, die Symptome zu lindern, aber sie können die Krankheit nicht ausmerzen. Das muss der Körper des Patienten tun. Die magische Heilkunst kann einem Menschen zusätzliche Kraft geben, aber sie kann eine Krankheit nicht besiegen, ohne das Risiko einzugehen, dem Körper zu schaden.«
»Die größte Gefahr droht Säuglingen und kleinen Kindern, ebenso wie den Alten und Schwachen«, ergänzte Magen. »Gesunde Erwachsene leiden einige Tage an einem Fieber, bevor sie sich langsam erholen.«
»Aber so ist es nicht«, fiel Reet ihm ins Wort. »Eine Kusine von mir ist vorgestern gestorben. Sie war erst zweiundzwanzig!«
Stille breitete sich im Raum aus, während die Anwesenden entsetzte Blicke tauschten. Danien wandte sich an Auraya. »Könnte die Herzzehre gefährlicher geworden sein?«
»Möglicherweise. Wenn das so ist, müssen wir erst recht dafür sorgen, dass sie sich nicht ausbreitet«, sagte sie warnend. »Hat abgesehen von dir noch jemand das Dorf verlassen? Sind Leute von außen dort gewesen, seit die Krankheit ausgebrochen ist?«
Reet sah sie mit großen Augen an. »Abgesehen von mir? Zwei Familien haben das Dorf nach Ausbruch der Krankheit verlassen. Eine ist zum Stamm vom Nordwald gegangen, die andere ist hierhergekommen. Als ich aufgebrochen bin, waren keine Besucher da.«
Die Neuankömmlinge unter den Kindern!, dachte Auraya plötzlich. Einen Augenblick nachdem ihr die Gefahr bewusst geworden war, hörte sie Magen scharf die Luft einsaugen und wusste, dass ihm der gleiche Gedanke gekommen war.
Sie sah Sirri an. »Ihr müsst diese Familie finden und von den anderen isolieren, dann müsst ihr in Erfahrung bringen, mit wem sie seit ihrer Ankunft in Berührung gekommen sind, und auch diese Siyee von den anderen absondern.«
Sirri verzog das Gesicht. »Das wird ihnen vielleicht nicht gefallen. Was ist mit den Stämmen vom Nordfluss und vom Nordwald?«
»Schick jemanden zum Stamm vom Nordwald, um herauszufinden, ob dort jemand erkrankt ist. Was den Stamm vom Nordfluss betrifft…« Auraya überlegte kurz. Es wäre besser, die Menschen im Dorf zu behandeln, aber konnte sie das Offene Dorf verlassen? Was war, wenn die Pentadrianer angriffen? Berichte über einen möglichen Angriff würden das Offene Dorf als erstes erreichen. Sie blickte zu Danien und Magen hinüber. Die beiden konnten sich durch ihre Ringe mit ihr in Verbindung setzen. »Ich werde zu ihnen gehen«, sagte sie. »Danien und Magen werden meine Verbindung zu dir sein. Was immer du mir erzählen willst, kannst du ihnen sagen. Sie werden es mir übermitteln.«
Sirri nickte. »Das werde ich tun. Wann wirst du aufbrechen?«
»So bald wie möglich. Du wirst mir vielleicht helfen müssen, den Familien den Grund dafür zu erklären, warum sie sich von den anderen fernhalten müssen. Außerdem möchte ich gern einige Medizinen sammeln. Ihr verfügt über einige Heilmittel, die helfen werden.«
Sirri erhob sich. »Sag mir, was du willst, und ich werde jemanden ausschicken, der diese Dinge besorgt. Und jetzt solltest du mich wohl begleiten. Je eher wir diese Familien isolieren, umso besser. Was ist mit Reet?«
Auraya drehte sich zu dem Jungen um. »Auch du könntest die Krankheit weitertragen«, erklärte sie sanft.
»Sie verbreitet sich durch Berührung«, fügte Magen hinzu. »Und durch den Atem. Mit wem hast du seit deiner Ankunft gesprochen, Reet?«
»Nur mit Sprecherin Sirri. Und ich habe sie nicht berührt.«
»Werde ich mich ebenfalls von den anderen fernhalten müssen?«, fragte Sirri. »Wer wird den Stamm an meiner Stelle führen?«
Auraya dachte nach. »Wenn du darauf achtest, niemanden zu berühren… Magen kann dich mit einem magischen Schild umgeben, so dass dein Atem niemanden erreicht. Wenn du in einigen Tagen keine Symptome aufweist, kannst du davon ausgehen, dass du dich nicht angesteckt hast. Das Gleiche gilt für alle hier im Raum.« Sie sah die Priesterschüler an. »Reet könnte euch, falls er ebenfalls an der Krankheit leidet, angesteckt haben. Haltet euch von anderen fern, es sei denn, ein Priester beschirmt euch.«
»Darf ich zu meinem Stamm zurückkehren?«, fragte Reet.
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, antwortete Auraya. »Solange du dort bleibst.«
»Ruh dich zuerst ein wenig aus und iss etwas«, sagte Magen.
»Ja.« Auraya stand auf. »Ich mache mich besser an die Arbeit.« Sie nickte den Priestern zum Abschied zu, dann eilte sie zusammen mit Sirri aus der Laube.