»Ja und nein«, antwortete Auraya. »Es gibt Möglichkeiten, die Symptome zu lindern, aber sie können die Krankheit nicht ausmerzen. Das muss der Körper des Patienten tun. Die magische Heilkunst kann einem Menschen zusätzliche Kraft geben, aber sie kann eine Krankheit nicht besiegen, ohne das Risiko einzugehen, dem Körper zu schaden.«
»Die größte Gefahr droht Säuglingen und kleinen Kindern, ebenso wie den Alten und Schwachen«, ergänzte Magen. »Gesunde Erwachsene leiden einige Tage an einem Fieber, bevor sie sich langsam erholen.«
»Aber so ist es nicht«, fiel Reet ihm ins Wort. »Eine Kusine von mir ist vorgestern gestorben. Sie war erst zweiundzwanzig!«
Stille breitete sich im Raum aus, während die Anwesenden entsetzte Blicke tauschten. Danien wandte sich an Auraya. »Könnte die Herzzehre gefährlicher geworden sein?«
»Möglicherweise. Wenn das so ist, müssen wir erst recht dafür sorgen, dass sie sich nicht ausbreitet«, sagte sie warnend. »Hat abgesehen von dir noch jemand das Dorf verlassen? Sind Leute von außen dort gewesen, seit die Krankheit ausgebrochen ist?«
Reet sah sie mit großen Augen an. »Abgesehen von mir? Zwei Familien haben das Dorf nach Ausbruch der Krankheit verlassen. Eine ist zum Stamm vom Nordwald gegangen, die andere ist hierhergekommen. Als ich aufgebrochen bin, waren keine Besucher da.«
Die Neuankömmlinge unter den Kindern!, dachte Auraya plötzlich. Einen Augenblick nachdem ihr die Gefahr bewusst geworden war, hörte sie Magen scharf die Luft einsaugen und wusste, dass ihm der gleiche Gedanke gekommen war.
Sie sah Sirri an. »Ihr müsst diese Familie finden und von den anderen isolieren, dann müsst ihr in Erfahrung bringen, mit wem sie seit ihrer Ankunft in Berührung gekommen sind, und auch diese Siyee von den anderen absondern.«
Sirri verzog das Gesicht. »Das wird ihnen vielleicht nicht gefallen. Was ist mit den Stämmen vom Nordfluss und vom Nordwald?«
»Schick jemanden zum Stamm vom Nordwald, um herauszufinden, ob dort jemand erkrankt ist. Was den Stamm vom Nordfluss betrifft…« Auraya überlegte kurz. Es wäre besser, die Menschen im Dorf zu behandeln, aber konnte sie das Offene Dorf verlassen? Was war, wenn die Pentadrianer angriffen? Berichte über einen möglichen Angriff würden das Offene Dorf als erstes erreichen. Sie blickte zu Danien und Magen hinüber. Die beiden konnten sich durch ihre Ringe mit ihr in Verbindung setzen. »Ich werde zu ihnen gehen«, sagte sie. »Danien und Magen werden meine Verbindung zu dir sein. Was immer du mir erzählen willst, kannst du ihnen sagen. Sie werden es mir übermitteln.«
Sirri nickte. »Das werde ich tun. Wann wirst du aufbrechen?«
»So bald wie möglich. Du wirst mir vielleicht helfen müssen, den Familien den Grund dafür zu erklären, warum sie sich von den anderen fernhalten müssen. Außerdem möchte ich gern einige Medizinen sammeln. Ihr verfügt über einige Heilmittel, die helfen werden.«
Sirri erhob sich. »Sag mir, was du willst, und ich werde jemanden ausschicken, der diese Dinge besorgt. Und jetzt solltest du mich wohl begleiten. Je eher wir diese Familien isolieren, umso besser. Was ist mit Reet?«
Auraya drehte sich zu dem Jungen um. »Auch du könntest die Krankheit weitertragen«, erklärte sie sanft.
»Sie verbreitet sich durch Berührung«, fügte Magen hinzu. »Und durch den Atem. Mit wem hast du seit deiner Ankunft gesprochen, Reet?«
»Nur mit Sprecherin Sirri. Und ich habe sie nicht berührt.«
»Werde ich mich ebenfalls von den anderen fernhalten müssen?«, fragte Sirri. »Wer wird den Stamm an meiner Stelle führen?«
Auraya dachte nach. »Wenn du darauf achtest, niemanden zu berühren… Magen kann dich mit einem magischen Schild umgeben, so dass dein Atem niemanden erreicht. Wenn du in einigen Tagen keine Symptome aufweist, kannst du davon ausgehen, dass du dich nicht angesteckt hast. Das Gleiche gilt für alle hier im Raum.« Sie sah die Priesterschüler an. »Reet könnte euch, falls er ebenfalls an der Krankheit leidet, angesteckt haben. Haltet euch von anderen fern, es sei denn, ein Priester beschirmt euch.«
»Darf ich zu meinem Stamm zurückkehren?«, fragte Reet.
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, antwortete Auraya. »Solange du dort bleibst.«
»Ruh dich zuerst ein wenig aus und iss etwas«, sagte Magen.
»Ja.« Auraya stand auf. »Ich mache mich besser an die Arbeit.« Sie nickte den Priestern zum Abschied zu, dann eilte sie zusammen mit Sirri aus der Laube.
Obwohl Imi bereits seit Stunden in dem Raum war, wusste sie nichts über ihre neue Umgebung. Sie hatte gehofft, dass ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen würden, aber das war nicht geschehen. Die Tatsache, dass alle Geräusche ein Echo hervorriefen, legte die Vermutung nahe, dass der Raum ebenso groß war wie der Rumpf des Schiffes, in dem die Plünderer sie gefangen gehalten hatten. Der Boden war aus kaltem Stein, aber sie hatte noch nicht die Kraft, festzustellen, ob die Wände ebenfalls aus Stein waren.
Sie konnte nur vermuten, dass etliche Stunden vergangen sein mussten. Es war an diesem Ort unmöglich, das Verstreichen der Zeit einzuschätzen. In ihrer Heimat konnte man die Uhrzeit ermitteln, indem man auf eine Zeitlampe sah. Der Ölvorrat darin markierte jede Stunde. Oder man benutzte die vielen Tidenmaße, um die Zeit zu berechnen. In die Wände aller Tidenbecken waren Zeitmaße eingemeißelt. Ihr Magen knurrte, und sie dachte an den Teller mit Fisch, von dem der nette Landgeher ihr zu essen gegeben hatte. Er hatte den Teller dagelassen, und sie hatte während der nächsten Stunden langsam den Rest verzehrt. Das Salzwasser hatte ihre Haut beruhigt, und sie hatte sich besser gefühlt.
Jetzt hatte sie nur noch einen großen Eimer voller Seewasser, mit dem sie sich bespritzen konnte. Das Behältnis stand neben ihr in der Dunkelheit.
Warum?, fragte sie sich. Warum bin ich hier?
Sie dachte an den Streit zwischen dem netten Landgeher und dem bösen. Der böse Landgeher musste gesehen oder gehört haben, dass der nette plante, sie zu retten. Er hatte sie an einen anderen Ort gebracht, um sie für sich zu behalten.
Aber warum will er mich behalten? Will er, dass ich für ihn arbeite, so wie der Plünderer und die Seeglockenfischer es wollten?
Bei der Erinnerung an die Seeglocken durchzuckte sie ein Stich des Schmerzes. Ich hoffe, dass ich nie wieder eine Seeglocke zu sehen bekomme, dachte sie. Ich hasse sie. Ich hätte die Stadt nicht verlassen sollen. Wie konnte ich nur so dumm sein? Sie drehte sich auf den Rücken und blinzelte gegen die Tränen an. Ich hätte an die Gefahren außerhalb der Stadt denken müssen. Das ist mein Problem. Ich denke nicht nach, bevor ich etwas tue.
Jetzt habe ich reichlich Zeit zum Nachdenken. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht kann ich einen Weg ersinnen, um hier herauszukommen. Wie wahrscheinlich ist es, dass mein Vater oder irgendein gutaussehender Krieger mich finden wird? Vater weiß nicht, wo ich bin. Ebenso wenig weiß es dieser nette Landgeher. Ich sollte aufhören, darauf zu warten, dass jemand anders mich rettet, und mich stattdessen selbst retten.
Sie seufzte. Aber was kann ich tun? Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Ich weiß lediglich, dass ich irgendwo in einem Raum bin.
Vielleicht konnte sie mehr in Erfahrung bringen, wenn sie den Raum erkundete. Wenn sie Lärm machte, würde vielleicht jemand kommen, um herauszufinden, was hier vorging.
Langsam richtete sie sich auf. Sie war noch immer furchtbar müde. Sie zwang sich aufzustehen und taumelte einige Schritte durch den Raum. Es war schwer, in der Dunkelheit das Gleichgewicht zu bewahren, und mehrmals wäre sie um ein Haar gestürzt. Endlich traf ihre ausgestreckte Hand auf eine harte Oberfläche.
Es war Stein. Sie tastete sich an der Wand entlang und bemerkte Furchen im Gemäuer. Vermutlich handelte es sich dabei um mit Mörtel verstrichene Ritzen zwischen den Steinen. Langsam ging sie durch den Raum und suchte nach irgendwelchen Veränderungen in der Wand. Sie kam an zwei Ecken vorbei, bis sie schließlich auf die Tür stieß.