Diese war aus Holz. Sie konnte metallene Türangeln auf der Innenseite ertasten. Schließlich holte sie tief Luft und stieß einen Schrei aus, der ohrenbetäubend im Raum widerhallte. Gleichzeitig hämmerte sie mit den Fäusten an die Tür.
Nach wenigen Schreien musste sie jedoch wieder aufhören. Ihr Kopf drehte sich, und ihre Arme schmerzten. Sie ließ sich an der Tür zu Boden sinken.
Von draußen erklang das Geräusch näher kommender Schritte. Hoffnung flammte in ihr auf, und ihre Stärke kehrte zurück. Sie schrie mit erneuerter Inbrunst. Direkt hinter der Tür waren Stimmen zu hören. Das Holz vibrierte, als sich jemand an dem Schloss zu schaffen machte. Als die Tür geöffnet wurde, zog Imi sich zurück. Zwei Männer erschienen.
Sofort verlor sie allen Mut. Einer der Männer war derjenige, der sie gefangen hatte, der andere war ein Fremder. Als der Neuankömmling sie mit unmenschlichen, habgierigen Augen anstarrte, zerstob alle Hoffnung, und ihre Beine gaben unter ihr nach. Sie schlug sich die Knie auf dem steinernen Fußboden an und zuckte zusammen.
Die beiden Männer beachteten sie nicht, sondern begannen ein leises Gespräch. Der Landgeher, der sie gefangen hatte, deutete auf etwas auf dem Boden außerhalb des Raums. Der Habgierige bückte sich, um es aufzuheben.
Es war ein Sack. Als der Mann auf Imi zukam, wich sie zurück, aber es gab kein Entkommen. Als sie sich zur Wehr setzte, schlug er nach ihr und sprach mit Worten auf sie ein, die sie nicht verstand, aber sein warnender Tonfall entging ihr nicht. Sobald sie in dem Sack war, hob der Mann sie hoch und trug sie davon. Sie spürte, dass sie sich nach oben bewegte, dann sah sie Sonnenlicht durch das Gewebe des Sacks. Kurze Zeit später wurde sie wieder an einen dunklen Ort gebracht, und der Boden begann sich zu bewegen.
Benommen vor Erschöpfung lauschte sie den eigenartigen Geräuschen um sich herum. Sie vervielfachten sich und wurden immer lauter. Schließlich überlagerten Stimmen alle anderen Geräusche, und Angst stieg in ihr auf. Landgeher umringten sie. Es war nur allzu leicht, sich vorzustellen, dass sie alle wie die Plünderer waren und wie der Mann, der sie gefangen hatte, habgierig und grausam.
Der nette Landgeher war anders, rief sie sich ins Gedächtnis. Es muss mehr von seiner Art geben. Vielleicht sogar in diesem Raum. Was würde geschehen, wenn sie um Hilfe schrie? Was, wenn es ihr gelang, aus dem Sack und dem Wagen zu entkommen?
Sie trat um sich und spürte, wie ihre Beine gegen etwas stießen. Dieses Etwas prallte zurück, dann schlug es ihr mit voller Wucht gegen die Wade. Sie keuchte vor Schmerz. Eine Stimme murmelte einige ärgerliche Worte.
Wenn sie schrie, würde er ihr abermals wehtun, aber es würde sich vielleicht lohnen. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, um es noch einmal zu versuchen, hielt dann jedoch inne, als der Boden unter ihr aufhörte, sich zu bewegen.
Ganz in ihrer Nähe erklang eine weitere Stimme. Diese Stimme und der habgierige Mann unterhielten sich wohlgelaunt. Dann wurde sie gepackt und hochgehoben. Sie erkannte den Geruch des Meeres im gleichen Augenblick, als sie das vertraute Knarren und Platschen eines Schiffes hörte.
Die beiden Männer trugen sie zuerst hinauf, dann hinunter und setzten sie schließlich auf einen harten Boden. Sie blieb still liegen und war sich des vertrauten Schaukelns nur allzu bewusst. Leichte Übelkeit stieg in ihr auf. Über ihr schrien Menschen. Menschen auf Schiffen schrien immer. Sie hörte Schritte näher kommen. Der Sack bewegte sich, dann wurde er ihr über den Kopf gezogen. Sie kämpfte sich frei, voller Verlangen nach frischer Luft.
Als sie aufblickte, erstarrte sie vor Überraschung.
Statt des habgierigen Mannes standen zwei Frauen vor ihr. Beide trugen aus vielen Schichten zusammengesetzte schwarze Roben und silberne Anhänger. Sie lächelten sie an.
»Hallo, Imi«, sagte die ältere Frau. »Du bist jetzt in Sicherheit, Imi.«
Imi starrte sie erstaunt an. Sie hat meinen Namen gesagt? Woher kennt sie meinen Namen? Und wie ist es möglich, dass sie die Sprache der Elai beherrscht?
Die Frau beugte sich vor und streckte die Hand aus. »Niemand wird dir jetzt noch etwas tun. Komm mit uns, und wir werden dir helfen.«
Tränen schossen Imi in die Augen. Endlich waren ihre Retter gekommen. Sie sahen ganz anders aus, als sie sie sich vorgestellt hatte. Weder ihr Vater war gekommen noch ein wunderbarer Krieger – nicht einmal der nette Landgeher. Nur zwei Frauen.
Aber sie würden genügen.
26
Der Himmel schillerte in allen Farben. Am Horizont war er hellgelb, und ein wenig höher nahm er eine warme Rottönung an. Noch höher bildeten sich unerwartete Farben, Grüntöne, die in immer dunkler werdende Blauschattierungen übergingen und schließlich mit dem schwarzen, sternenübersäten Nachthimmel verschmolzen.
Ein hübscher Sonnenuntergang gilt als Zeichen für gutes Wetter, überlegte Emerahl. Was ich nur hoffen kann, denn sonst steht mir abermals eine raue Überfahrt bevor.
Der Sturm, der während der letzten Tage gewütet hatte, war von der Art gewesen, die leicht zum Untergang eines Schiffes führen konnte. Als er ein wenig abgeflaut war, hatte Emerahl nach der Treppe gesucht und sie schließlich gefunden. Sie war steil, schmal und überwuchert. Nachdem sie hinabgestiegen war, hatte sie sich gefragt, ob sie, wie Gherid es gesagt hatte, in der Höhle jemanden finden würde. Vielleicht ein Opfer des Sturms. Vielleicht die Möwe selbst.
Die Höhle war leer gewesen. Der Sturm hatte erneut an Wucht zugenommen, aber weder die Möwe noch irgendwelche Schiffbrüchigen waren erschienen. Sie war dort gefangen, aber das machte ihr nichts aus; sie hatte es nicht eilig. Die Höhle war nicht luxuriös, nicht einmal gemessen an den Maßstäben eines armen Menschen, aber sie war trocken. Emerahl konnte sich die Möwe hier gut vorstellen. Sie glaubte, ihn in den primitiven, aus Treibholz und Segeltuch gefertigten Möbeln riechen zu können – eine Mischung aus Schweiß, Salzwasser und Fisch.
Die Möwe selbst. Unsterblich. Geheimnisvoll. Ein Wilder wie sie.
Möglicherweise wusste er, dass jemand in seine Zuflucht eingedrungen war, und hielt sich deshalb fern. Es war eine Versuchung, noch ein Weilchen zu warten und festzustellen, ob er auftauchen würde. In der Höhle befand sich ein Vorrat getrockneter Speisen, und sie konnte Fische fangen.
Aber sie wollte die Vorräte nicht anrühren. Gherid hatte ihr erzählt, dass dieser Ort eine Zuflucht für jene war, die die Möwe gerettet hatte. Sie war keine gestrandete Schiffbrüchige, daher hatte sie das Gefühl, kein Recht darauf zu haben, sich von den Vorräten zu bedienen.
Nein, es ist an der Zeit weiterzuziehen, dachte sie. Die Chance, dass er zufällig vorbeikommt, während ich hier bin, ist ohnehin gering. Ich werde tun, was ich geplant habe: eine Nachricht hinterlassen und mich wieder auf den Weg machen.
Sie grübelte über den Inhalt ihrer Botschaft nach. Da sie sich nicht allzu gut auf Rätsel verstand, es ihr jedoch widerstrebte, etwas allzu Konkretes niederzuschreiben – und sei es auch nur in einer alten, toten Sprache -, hatte sie sich dafür entschieden, Symbole zu verwenden, von denen sie hoffte, dass die Möwe sie verstehen würde. Sie hatte ein Büschel des strähnigen weißen Grases gesammelt, das man »Altweiberhaar« nannte, und es zu einem Seil gewunden. Auf dieses Seil hatte sie eine Mondmuschel mit dem Zeichen einer Mondsichel gebunden. Anschließend hatte sie das Seil zu einer Schlinge verknotet und es an die Wand im hinteren Teil der Höhle gehängt.
Das Seil sollte ihm sagen: »Ich bin die alte Hexe«, und die Muschel deutete auf die Mondphase, zu der sie zurückkehren wollte. Manchmal fand sie, das Ganze sei eine Spur zu offenkundig. Dann wieder machte sie sich Sorgen, ob er die Botschaft verstehen würde. Oder ob er sie überhaupt finden würde.