Der Himmel war jetzt fast schwarz, und nur am Horizont war noch ein warmes Leuchten zu erkennen. Emerahl verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Höhleneingang.
Viele Dinge waren ihr während ihres Aufenthalts hier durch den Kopf gegangen. Zum einen waren die Gedanken Gherids und jener anderen, die der Möwe begegnet waren, nicht abgeschirmt. Jeder, der in ihrem Geist lesen konnte, würde wissen, dass die Möwe noch immer existierte. Also mussten die Götter wissen, dass er lebte. Weshalb hatten sie ihn nicht getötet?
Vielleicht weil er zu schwer zu finden ist, überlegte sie. Sie müssten einen willigen Menschen als Werkzeug benutzen. Wenn er ihren menschlichen Dienern ausweichen kann, kann er ihnen ein Schnippchen schlagen.
Oder vielleicht sind sie zu dem Schluss gekommen, dass er keine Gefahr für sie darstellt. Sie könnten ihn sogar mit Wohlwollen betrachten, da er vielen Zirklern das Leben rettet und niemals Sterbliche dazu ermutigt hat, ihn anzubeten. Sie runzelte die Stirn. Unterscheidet er sich in dieser Hinsicht wirklich von mir? Ich heile Menschen. Ich stelle keine echte Bedrohung für die Götter da. Ich hatte nie den Wunsch, dass man mir huldigt. Vielleicht habe ich gar keinen Grund, sie zu fürchten. Vielleicht würden sie mich am Leben lassen, wenn sie wüssten, wo ich bin.
Wenn das wahr ist, warum haben die Priester dann Jagd auf mich gemacht, als sie erfuhren, dass in dem Leuchtturm eine verdächtig langlebige Zauberin haust? Warum haben die Götter einem Priester die Fähigkeit des Gedankenlesens gegeben, damit er bessere Chancen hatte, mich zu finden?
Möglicherweise hatten sie nicht die Absicht, sie zu töten, sondern wollten sie nur befragen.
Das ist unwahrscheinlich. Sie schnaubte leise. Die Götter hassen Unsterbliche. Das haben sie immer getan. Was sie zu einem anderen Thema brachte, über das sie nachgedacht hatte. Zu einer Frage, die sie sich in der Vergangenheit viele Male gestellt hatte.
Warum hassen die Götter uns? Sie haben nichts von uns zu befürchten, wir können ihnen keinen Schaden zufügen. Wir mögen gegen sie arbeiten, aber unsere Bemühungen haben nur selten große Wirkung gezeigt. Könnte es sein, dass sie einen Grund haben, uns zu fürchten?
Sie schüttelte den Kopf. Es war nur allzu leicht, mehr hinter dem Hass der Götter auf die Unsterblichen sehen zu wollen, als in Wirklichkeit da war. Sie töten uns, weil sie uneingeschränkte Macht über die Sterblichen wollen. Sie wollen, dass ihre Anhänger sich an Priester und Priesterinnen wenden, wenn sie der Heilung bedürfen, nicht an mich oder an die Traumweber.
An einer anderen Stelle des Horizonts war ein Licht erschienen. Emerahl schob alle Gedanken an die Götter beiseite und beobachtete, wie der Halbmond am Himmel emporstieg. Als er frei über dem Meer schwebte, sah sie sich um. Die Mondsichel spendete genug Licht, um zu segeln. Sie griff nach ihrem Beutel, warf noch einen letzten Blick auf die Höhle und machte sich dann auf, um die Treppe des Horts hinaufzusteigen.
Die Treppe war schmal, und wo sie nicht vom Licht des Mondes beschienen wurde, machte die Dunkelheit alle Einzelheiten unkenntlich und zwang Emerahl, ein kleines Licht zu schaffen. Die grasbewachsene Fläche am oberen Ende der Treppe erschien ihr jetzt, da sie nicht von Regen verschleiert wurde, viel kleiner. Zu ihrer Erleichterung lag ihr Boot noch dort, wo sie es zurückgelassen hatte. Die Seile hatten es während des Sturms festgehalten. Sie band sie los, riss den Anker aus der Erde und zog das Boot an die Seite des Horts. Dann stieg sie ein, atmete einige Male tief durch und leerte ihren Geist.
Nachdem sie Magie aus der Welt um sich herum gezogen hatte, hob sie das Boot in die Luft und über den Rand der Klippe, bevor sie es langsam ins Wasser hinunterließ.
Als sie die Liebkosung des Meeres auf dem Rumpf ihres kleinen Gefährts spürte, ließ sie es los. Sofort zog die Strömung sie davon. Sie schaute zu dem Hort hinüber, der langsam kleiner wurde, dachte an die Botschaft, die sie hinterlassen hatte, und fragte sich, ob die Möwe ihren Inhalt glauben würde.
Und wenn er es tut, wird er antworten?
Vermittler Meeran vom somreyanischen Rat holte tief Atem. In letzter Zeit kosteten ihn die Zusammenkünfte des Rats häufig viel Kraft. Dieses Zeichen seines nahenden Alters gefiel ihm überhaupt nicht, und er zwang sich stets dazu, nach solchen Versammlungen zurückzubleiben und mit jenen zu plaudern, die ebenfalls nicht sofort aufbrachen.
Das prächtige alte Ratsgebäude stand in der Nähe des Hafens von Arbeem. Hohe Fenster boten einen wunderbaren Blick auf die Stadt und die Bucht. Winzige Lichter bewegten sich auf dem Wasser und deuteten auf die Position eines Schiffes hin. An einem der Fenster standen zwei Menschen in ein leises Gespräch versunken.
Meeran blinzelte überrascht. Eine der Gestalten war mit einem weißen Zirk angetan, die andere trug bescheidenere Kleider: ein ledernes Wams über einer schlichten gewobenen Tunika. Meeran kniff die Augen zusammen. Es kam nicht oft vor, dass man die Ältesten der Traumweber und der Zirkler des somreyanischen Rates zusammen sah. Im Allgemeinen verlangte ein Zusammentreffen dieser beiden ein hastiges Eingreifen seinerseits. Diesmal jedoch schienen sie freundschaftlich miteinander zu plaudern.
Der äußere Anschein konnte trügen, und das Blatt konnte sich rasch wenden. Meeran hielt es für klug, der Sache auf den Grund zu gehen. Niemand sprach ihn an, als er den Raum durchquerte. Sein Argwohn, dies könnte seinen Grund darin haben, dass auch andere die beiden am Fenster bemerkt hatten, fand seine Bestätigung, als der Ratsälteste Timbler seinen Blick auffing und mitfühlend den Kopf neigte.
Als er sich dem Fenster näherte, drehte Arleej sich zu ihm um. »Wir haben gerade über unseren neuen Nachbarn gesprochen, Vermittler Meeran«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln.
Er schaute aus dem Fenster und sah, was die Aufmerksamkeit der beiden erregt hatte. In den Docks lag ein großes Schiff, dessen Rumpf und Segel schwarz waren. Gerade gingen etliche Personen, die ein jeder eine große Last trugen, von Bord.
»Sie sind Narren, wenn sie glauben, so kurz nach dem Krieg Somreyaner bekehren zu können«, murmelte Hohepriester Haleed.
Meeran musterte den alten Mann. »Du glaubst also, das sei der Grund, warum die Pentadrianer hier sind?«
»Was sollte es sonst sein?«, antwortete Haleed mürrisch.
»Natürlich ist das der Grund für ihr Erscheinen.« Arleej warf Haleed einen spöttischen Blick zu. »Sie sind davon überzeugt, dass ihre Götter die einzig wahren Götter sind. Wir wissen bereits, wie entschlossen Menschen sein können, die sich einem solchen Glauben verschrieben haben.«
Haleed reckte das Kinn. »Sie werden scheitern«, sagte er. »Unsere Götter sind real, ihre nicht. Sie müssen sehr nachdrücklich oder sehr klug sein, um andere dazu zu bringen, sich ihnen anzuschließen. Und sie werden dabei eine Menge Ärger machen.«
Arleej schnalzte ungläubig mit der Zunge.
»Du bist anderer Meinung?«, fragte der Priester.
»Ich gebe dir insofern recht, als sie hier tatsächlich für Streit sorgen werden«, sagte sie. »Allerdings frage ich mich, wie du dir so sicher sein kannst, dass ihre Götter nicht real sind.«
»Weil der Zirkel uns erklärt hat, dass sie die einzigen Götter seien.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das heißt, die einzigen, die den Krieg der Götter überlebt haben. Vielleicht sind die pentadrianischen Götter erst nach diesem Krieg entstanden.«
»Das wäre dem Zirkel nicht entgangen.«
»Vielleicht ist das ein Irrtum.«
Meeran hob beschwichtigend die Hände, obwohl das Gespräch zu nichts Schlimmerem zu führen schien als zu einem wütenden Wortwechsel. »Wir könnten die ganze Nacht darüber streiten. Ich würde lieber hören, welche Konsequenzen eurer Meinung nach die Entscheidung des Rats haben wird, den Pentadrianern zu gestatten, sich hier niederzulassen.«