Haleed blickte auf das Schiff hinab und runzelte finster die Stirn. »Sie werden Ärger bringen, wie ich schon sagte. Zuerst erlauben wir ihnen, in unser Land zu kommen, und was dann? Werden wir ihnen einen Sitz im Rat geben?«
Arleej lächelte. »Wenn sie genug Anhänger finden, um eine gesetzlich erlaubte Religion zu werden, können wir ihnen einen Sitz im Rat nicht verweigern. So wollen es unser Gesetz und unsere Tradition.«
»Möglicherweise ist es an der Zeit, dieses Gesetz zu ändern«, meinte Haleed düster. »Oder die erforderliche Anzahl von Anhängern zu erhöhen.«
Ein Schatten glitt über Arleejs Gesicht. Sie macht sich Sorgen, dass der Hass auf die Pentadrianer die Somreyaner dazu bringen könnte, sich Haleeds Meinung anzuschließen, ging es Meeran durch den Kopf. Die Traumweber sind, verglichen mit der möglichen Anzahl von Pentadrianern, die vielleicht hierherkommen, nur eine kleine Gruppe. Ein solches Gesetz würde Arleej ihren Sitz im Rat nehmen, ohne zu verhindern, dass die Pentadrianer mehr Macht gewannen.
»Das Volk wird sich damit niemals einverstanden erklären, ganz gleich, wie sehr es unsere Besucher fürchten mag«, versicherte Meeran ihnen.
»Also werden wir sie nicht mehr los«, knurrte Haleed.
»Das muss nicht unbedingt so sein«, sagte Arleej leise. »Sie brauchen sich lediglich zu einer einzigen feindlichen Tat hinreißen zu lassen, dann können wir sie hinauswerfen. Und wir entscheiden darüber, was eine feindliche Tätigkeit ist.«
Haleed musterte sie mit widerstrebendem Respekt, und sie lächelte ihn an. Meeran blickte von einem zum anderen, dann schüttelte er den Kopf. Sie hatten einander viele Jahre lang Widerstand geleistet und dadurch an Stärke gewonnen. Der Gedanke, was sie vielleicht ausrichten konnten, wenn sie sich zusammentaten, war beunruhigend.
»Sie behaupten, sie seien hergekommen, um Frieden zu schließen«, rief Meeran ihnen ins Gedächtnis. »So zweifelhaft diese Behauptung sein mag, ich denke, wir sollten ihnen zumindest eine Chance geben, ihren guten Willen zu beweisen.«
Die beiden Ältesten sahen ihn an, und obwohl ihnen die Skepsis ins Gesicht geschrieben stand, nickten sie beide.
Auf den nördlichen Bergen lag bereits Schnee, wie Auraya bemerkte. Einzelne Schneefelder spiegelten das Licht des Mondes wider.
Stirnrunzelnd dachte sie darüber nach, welche Konsequenzen ein früher und harter Winter für die Siyee haben könnte, wenn sie durch die Herzzehre geschwächt wären.
Es wird nicht gar so schlimm werden, wenn ich die Ausbreitung der Krankheit verhindern kann, sagte sie sich.
Aber das war nicht immer leicht. Obwohl die Heilerpriester ein wenig über Seuchen wussten, betrachteten gewöhnliche Menschen die Ausbreitung derartiger Krankheiten mit Furcht und Aberglauben. Heute hatte sie herausgefunden, dass die Siyee in dieser Hinsicht nicht anders waren.
Die Familie, die von dem Stamm vom Nordfluss gekommen war, hatte sich geweigert, das Offene Dorf freiwillig zu verlassen, obwohl man ihnen in der Nähe Lauben angeboten und ihnen versichert hatte, dass sie sich dem Dorf nur so lange fernhalten müssten, bis sich herausgestellt hatte, ob sie krank waren oder nicht. Als Sirri ihnen den Befehl gegeben hatte fortzugehen, hatten sie gehorcht, wenn auch mit merklichem Groll.
Die Siyee, die in der Nähe des Offenen Dorfs lebten, hatten unterschiedlich auf die Situation reagiert. Einige waren voller Angst, und Auraya vermutete, dass Sirri alle Hände voll damit zu tun haben würde, diese Leute daran zu hindern fortzugehen. Andere fanden, dass die Familie vom Nordfluss ungerecht behandelt werde, und zögerten nicht, ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen.
Glücklicherweise zeigte keiner der Besucher Zeichen der Krankheit. Den Boten hatte der Flug zurück zum Nordfluss jedoch mehr angestrengt, als es hätte der Fall sein dürfen. Auraya sah zu Reet hinüber und runzelte die Stirn.
Er muss die Priesterlaube kurz nach mir verlassen haben, überlegte sie. Ich spüre, dass er Hunger hat. Er kann nicht viel gegessen haben, und Ruhe hat er auch nicht bekommen. Vielleicht fehlt ihm tatsächlich nichts anderes als ein wenig Schlaf.
Er war einige Stunden vor ihr aufgebrochen, aber sie hatte ihn mühelos eingeholt. Jetzt wusste sie nicht recht, ob sie weiterfliegen oder bei ihm bleiben sollte. Was war, wenn die Krankheit bei ihm sehr plötzlich auftrat? Was, wenn er das Bewusstsein verlor und in den Tod stürzte?
Was, wenn er einfach nur müde war und sie zu spät kam, um ein Mitglied des Stammes zu retten?
Es war eine unmögliche Entscheidung. Wenn sie nur gewusst hätte, wie es in dem Dorf aussah – ob irgendjemand wegen der Verzögerung würde leiden müssen.
Vielleicht gab es eine Möglichkeit, das herauszufinden. Es gab jemanden, den sie fragen konnte. Er würde vielleicht nicht auf ihren Ruf reagieren oder ihre Fragen nicht beantworten, aber sie konnte es zumindest versuchen.
Chaia.
Sie wartete mehrere Herzschläge ab, dann rief sie abermals. Als keine vertraute Präsenz ihre Sinne berührte, seufzte sie und dachte noch einmal über ihr Dilemma nach. Mit Sicherheit kann ich nur feststellen, dass Reet gefährlich müde ist. Also musste sie ihre Entscheidung auf diese Tatsache gründen.
Ich werde bei ihm bleiben, zumindest bis ich Genaueres weiß. Vielleicht erscheint Chaia ja doch noch.
Bei dem Gedanken daran, dem Gott abermals nahe zu sein, überlief sie ein Schaudern. Vieles hatte sich während der letzten Tage verändert.
Ich vermisse Leiard nicht mehr, dachte sie lächelnd. In diesem Punkt hatte Chaia recht.
Sie hatte noch nie zuvor solche Wonnen erlebt. Ihre Erfahrungen mit Chaia waren wie eine Traumvernetzung, aber erheblich raffinierter. Traumvernetzungen fußten auf der Erinnerung an körperliche Wonnen. In ihrer Zeit mit Chaia hatte sie eine Ekstase erlebt, wie sie sie noch nie verspürt hatte. Seine Berührung konnte nur die Berührung von Magie sein, aber das änderte sich, sobald ihr Geist und ihr Wille vereint waren. Magie konnte zu einem Gefühl werden. Chaia war in der Lage, auf jedes noch so geringe Begehren ihrerseits einzugehen, aber er konnte sie gleichzeitig auf eine Art und Weise entflammen, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.
Sie hatte erwartet, dass die Welt ihr, verglichen mit ihren Begegnungen mit Chaia, gedämpft und farblos erscheinen würde, doch stattdessen war es so, als seien ihre Sinne dadurch belebt worden. Jeder Gegenstand war faszinierend, jedes lebende Geschöpf schön und strahlend.
Glücklicherweise verblasste diese Wirkung nach und nach. Sie wollte nicht von der Schönheit eines Insekts abgelenkt werden, während sie versuchte, mit den Siyee über wichtige Dinge zu sprechen. Die Möglichkeit, sie mit ihren Sinnen zu sehen, weckte in ihr nur umso mehr den Wunsch, sie zu beschützen.
Gleichzeitig waren ihr die Unterschiede zwischen ihnen und ihr selbst jetzt bewusster. Ihre Größe und das Fehlen von Flügeln. Die Sterblichkeit der Siyee. Dieses Wissen um die Unterschiede zwischen ihnen machte sie traurig. War sie einem Gott nähergekommen, nur um sich weiter von den Sterblichen zu entfernen? Es war ein verstörender Gedanke.
Aber es ist schön, sich wieder auf die Nacht zu freuen, dachte sie. Und im Augenblick hat es nicht viel Sinn, sich deswegen Sorgen zu machen. Vor sich hin lächelnd drängte sie alle Kümmernisse beiseite und überließ sich tagträumend ihrer nächsten Begegnung mit Chaia.
27
Ich bin Genrianer!«, rief Devlem Radmacher. »Das könnt ihr mir nicht antun!«
»Du magst Genrianer sein«, erwiderte Reivan gelassen, »aber solange du in Avven lebst, musst du unsere Gesetze befolgen. Du wohnst jetzt lange genug hier, um zu wissen, dass lediglich die Versklavung von Verbrechern gestattet ist.«