»Sie ist kein Mensch«, beteuerte er. »Sie ist ein Tier – ein Geschöpf des Meeres. Man braucht sie nur anzusehen, um das zu begreifen.«
Sie erwiderte seinen Blick ohne einen Wimpernschlag. »Man braucht nur mit ihr zu sprechen, um zu wissen, dass sie ein Mensch ist. Und was für eine Geschichte sie über dich zu erzählen hat.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Du bist derjenige, den ich als unmenschlich beschreiben würde.«
Ein Zornesschrei entfuhr ihm, und er machte einen Satz auf sie zu. Reivan wich zurück, aber seine tastenden Hände erreichten sie nicht. Sie trafen auf eine unsichtbare Barriere.
Magie. Reivan sah zu Götterdiener Kikarn hinüber. Seine missbilligende Miene wurde weicher, als er ihren Blick auffing. Seine Mundwinkel zuckten in die Höhe. Reivan, die sich inzwischen von ihrer Überraschung erholt hatte, nickte dankbar.
»Ihr könnt mich nicht zum Sklaven machen!«, brüllte Devlem. »Meine Familie hat Verbindungen zu den Adelshäusern in Genria!«
»Schickt Götterdiener Grenara herein«, befahl sie.
Der Sklavenaufseher des Sanktuariums war zwar von kleinem Wuchs, aber jeder Schritt und jede Geste wiesen ihn als einen Mann aus, der es gewohnt war, dass man ihm gehorchte. Er begrüßte Reivan und Kikarn mit dem Zeichen des Sterns, dann wandte er sich zu Devlem um, und seine Augen wurden schmal, als er den Kaufmann musterte.
»Komm mit mir, Devlem Radmacher.«
Devlem funkelte den Mann wütend an. »Wenn du glaubst, ich würde dir einfach folgen wie ein vernunftloses Arem, dann bist du… dann bist du…«
Der Mann zuckte die Achseln. »Das liegt ganz bei dir. Einige akzeptieren ihr Schicksal mit Würde, andere müssen gefesselt und hinausgeschleift werden.«
Bei dem Wort »hinausgeschleift« flackerte Devlems Blick, und der Zorn wich aus seinen Zügen. Er trat einen Schritt von dem Sklavenaufseher zurück, dann drückte er den Rücken durch und stolzierte aus dem Raum. Grenara folgte ihm.
Als die Tür sich geschlossen hatte, stieß Reivan einen langen Seufzer aus. »Ich danke dir, Götterdiener Kikarn«, sagte sie.
Er sah sie mit gespielter Verwirrung an. »Wofür, Götterdienerin Reivan?«
Sie lächelte. Es scheint, als hätte ich hier einen Verbündeten gewonnen.
»Wir haben für heute mehr als genug gearbeitet. Ich sehe dich dann morgen früh.«
Kikarn neigte den Kopf und machte das Zeichen des Sterns. Reivan verabschiedete sich von ihm und verließ den Raum durch die zweite Tür.
Die Flure des Unteren Sanktuariums waren praktisch menschenleer. Die meisten der Götterdiener hatten sich für den Abend zurückgezogen. Obwohl Reivan sich nach Ruhe sehnte, ging sie nicht zu ihrem Quartier.
Mehrere Flure und Treppen später erreichte sie das Obere Sanktuarium. Fackeln erhellten den Weg zum Haupthof. Reivan trat in die Nachtluft hinaus und blieb einen Moment lang stehen, um das Bild zu betrachten, das sich ihr bot. In der Mitte des Hofs, wo ein Springbrunnen tagsüber die Luft abkühlte, stand jetzt ein großes Zelt. Die Lampen darin warfen die Schatten einer Frau und eines Kindes auf die Tuchwände. Stimmen im Innern des Zeltes bildeten fremde, schrille Worte, die Reivan nicht verstehen konnte. Sie trat vor die Zeltlasche.
»Darf ich hereinkommen?«, rief sie.
»Ja«, antwortete Imenja. »Wir sprechen gerade über Imis Heimat. Es scheint ein faszinierender Ort zu sein.«
Reivan schob die Türlasche beiseite und trat ein. Das Elai-Mädchen hatte die Ellbogen auf den Rand des Springbrunnens gestützt, den Sklaven mit Meerwasser gefüllt hatten. Im Licht der Lampen sah ihre Haut noch dunkler aus. Reivan rief sich die Zeichnungen von Meeresleuten, die sie aus den Büchern der Denker kannte, ins Gedächtnis und staunte einmal mehr darüber, wie wenig zutreffend sie waren. Dieses Kind hatte keinen Fischschwanz oder wallende Haarlocken. Es war vollkommen unbehaart und hatte zwei normale Beine.
Fast normal, korrigierte sich Reivan. Imis Hände und Füße waren unverhältnismäßig groß, und zwischen ihren Fingern und Zehen spannten sich dicke Schwimmhäute. Andere Verzerrungen im Körperbau des Mädchens ließen auf weitere Unterschiede schließen. Seine Brust war sehr breit für ein Kind. Es hätte Reivan nicht überrascht zu erfahren, dass die Elai über viel größere Lungen verfügten als normale Menschen.
Die Maler, die derart fantasievolle Bilder angefertigt hatten, wären von Imi enttäuscht gewesen. Alles in allem machten die Verformungen ihres Körpers und der Mangel an Haaren sie nicht zu einer besonders anziehenden Rasse. Nicht einmal die hübsche Tunika, die sie trug, konnte das verbergen. Als das Mädchen lächelte und dabei leicht spitze weiße Zähne zur Schau stellte, musste Reivan ein Schaudern unterdrücken.
»Reivan«, sagte Imi langsam.
»Imi«, erwiderte Reivan. »Wie geht es dir?«
Imenja übersetzte. Die kleine Elai betrachtete ihre sich abschälende Haut, und ein trauriger Ausdruck umwölkte ihr Gesicht, als sie antwortete.
»Sie fühlt sich schon ein wenig kräftiger«, erklärte Imenja Reivan. »Sie hat gewiss eine Menge durchgemacht. Zuerst von Fischern gefangen, dann von Plünderern, und beide haben sie gezwungen, für sie zu arbeiten. Dann wurde sie an den Kaufmann verkauft – ist diese Angelegenheit übrigens geregelt?«
»Ja. Er behauptet, sie sei ein Tier, und daher habe er kein Gesetz gebrochen. Er ist mit dem Sklavenaufseher fortgegangen.«
»Gut. Dummheit ist keine Entschuldigung für Grausamkeit. Keiner der Männer, die sie gefangen haben, hat den Versuch unternommen, mit ihr zu reden. Sie haben ihr nur rohen Fisch zu essen gegeben und sie austrocknen lassen. Die Elai …
Imi sagte etwas. Imenja lächelte und sprach kurz mit dem Mädchen, dann wandte sie sich wieder Reivan zu.
»Die Elai müssen jeden Tag eine gewisse Zeit im Salzwasser verbringen. Und genau wie wir ernähren sie sich von einer Vielzahl verschiedener Speisen. Nicht nur von den Produkten des Meeres.« Sie hielt inne. »Du wirst niemals erraten, wer sie ist.«
Reivan kicherte. »Nein, ich würde sagen, das ist wenig wahrscheinlich.«
Imenja drehte sich wieder zu Imi um. »Sie ist die Tochter des Königs der Elai.«
Überrascht blickte Reivan auf das Kind hinab. Das Mädchen lächelte unsicher.
»Wie ist sie in Gefangenschaft geraten?«
»Sie ist ihrer Beschützerin entkommen, um nach einem Geschenk für ihren Vater zu suchen.«
»Weiß er, dass sie gefangen wurde?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Fest steht, dass er nicht der einzige Elai ist, der feiern wird, wenn sie zu ihrem Volk zurückkehrt.«
»Es sei denn, ihre Gefangennahme wäre von seinen Feinden eingefädelt worden.«
Imenja runzelte die Stirn. »Das wäre möglich.«
»Du wirst vorsichtig sein müssen, wenn du sie zurückbringst.«
»Ich?« Imenja zog die Augenbrauen hoch. »Warum glaubst du, dass ich sie nach Hause bringen werde?«
»Weil sie die Tochter eines Königs ist. Sie ist an jemanden verkauft worden, der in unserem Land lebt. Wenn sie zurückkehrt und ihre Geschichte erzählt, wird man uns für einen Teil ihres Martyriums verantwortlich machen, es sei denn, wir entscheiden uns für eine große Geste der Entschuldigung. Und …« Reivan lächelte. »Weil die Elai nichts mit dem Krieg zu tun hatten, werden sie keinen schwelenden Groll hegen, der dich daran hindern könnte, sie mit den Fünf bekannt zu machen.«
Imenja sah Reivan mit einer Mischung aus Überraschung und Anerkennung an. »Du hast recht.« Sie blickte zu Imi hinüber und lächelte. »Ich sollte sie tatsächlich selbst zurückbringen. Und du wirst mich begleiten. Ich werde natürlich Nekaun von dieser Idee überzeugen müssen, aber die Möglichkeit, einen Verbündeten zu gewinnen, dürfte für ihn wohl den Ausschlag geben. Falls wir Erfolg haben, wird niemand es wagen, Einwände zu erheben, wenn ich dich zu meiner Gefährtin mache.«
Imi beobachtete Imenja. Dann begann sie zu sprechen, und ihre fremdartigen Worte formten eine Frage. Imenjas Antwort entlockte ihr ein erleichtertes Lächeln.