Imi nickte. Sie traten durch die Tür in einen großen Raum mit einer Kuppeldecke. Imi sog erstaunt die Luft ein.
Das Dach, der Boden und die Decke waren mit leuchtenden Farben bemalt. Die Kuppel war blau und wies Wolken, Vögel und sogar einige seltsam aussehende Siyee auf. Die Wände zeigten verschiedene Landschaften, und der Boden war eine Mischung aus Garten und Wasser. Überall waren Bilder von Landgehern zu sehen; sie hielten sich in Gärten und Häusern auf, fuhren in Booten oder wurden von Sklaven getragen. Sowohl vertraute als auch ungewöhnliche Tiere, die zum Teil recht fantastisch wirkten, waren in Gärten, Wäldern, Seen und Flüssen abgebildet. Imi schaute genauer hin und stellte fest, dass die Bilder und Muster aus unzähligen winzigen Steinchen zusammengesetzt waren, die einen eigenen Schimmer hatten.
Als sie ein Geräusch hörte, blickte sie auf und zuckte zusammen, als sie sah, dass ein Mann in der Mitte des Raums stand. Er trug die gleichen schwarzen Roben wie Imenja und bewunderte die Bilder, aber als Imi ihn bemerkte, schaute er auf und lächelte.
»Sei mir gegrüßt, Prinzessin Imi«, sagte er mit einer warmen, angenehmen Stimme. »Ich bin Nekaun, Erste Stimme der Götter.«
Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, ahmte sie seine Redeweise nach. »Sei mir gegrüßt, Nekaun, Erste Stimme der Götter. Ich bin Imi, Prinzessin der Elai.«
»Wie geht es dir?«
»Besser«, antwortete sie.
Er nickte, und seine Augen schienen mit einem Mal zu funkeln wie Sterne. »Ich freue mich, das zu hören«, entgegnete er. »Ich wollte dir heute Abend einen Besuch abstatten, aber ich dachte, es wäre vielleicht vergnüglicher, dir diesen Ort zu zeigen, sofern du dich stark genug dafür fühltest. Es gibt hier etwas, das dich interessieren könnte.« Er winkte sie heran.
Sie ging auf ihn zu und konzentrierte sich darauf, würdevoll zu erscheinen, obwohl sie sich ihrer großen Hände und Füße nur allzu bewusst war.
»Ich habe mich nur dank Imenja und Reivan wieder erholt«, erklärte sie, als sie neben ihn trat. »Und dank dir, weil du mir erlaubt hast hierzubleiben.«
Er sah ihr in die Augen und nickte mit ernster Miene. »Ich muss mich für die schlechte Behandlung entschuldigen, die du erlitten hast, bevor Imenja dich fand.«
Sie runzelte die Stirn. »Das war nicht deine Schuld.«
»Ah, aber ich trage eine gewisse Verantwortung für alles, was Besuchern in meinem Land widerfährt. Wenn unsere Gesetze zum Schutz gegen Verbrechen versagen, dann haben wir ebenfalls versagt.«
Ihr Vater würde wahrscheinlich genauso empfinden, wenn sein Volk einem Besucher ohne Grund Schaden zufügte – vor allem, wenn es sich um einen wichtigen Besucher handelte. Sie kam zu dem Schluss, dass sie diesen Mann mochte. Er war freundlich und behandelte sie mit Respekt, als sei sie eine Erwachsene.
»Dann danke ich dir für deine Entschuldigung«, erwiderte sie und überlegte dabei, wie erwachsen sie wohl klang. »Was möchtest du mir zeigen?«, fragte sie.
Er deutete auf den Boden. »Sei bitte nicht gekränkt; dies hier entspringt der Fantasie eines Künstlers, der dein Volk nie gesehen hat.«
Sie blickte hinab. Sie standen auf einem Bild des Meeres, von oben betrachtet und so windstill, dass man bis auf den Grund schauen konnte. Fische füllten den blauen Raum, und einige von ihnen schwammen auf der Seite, um ihre Farben zur Schau zu stellen. Am Rand des Ufers wuchsen nur sehr ungenau abgebildete Korallen und Gräser. Zu ihren Füßen war eine Landgeherin zu sehen, die einen Fischschwanz anstelle von Beinen hatte. Ihr Haar war von einer hellgelben Farbe und umspielte ihren Körper, um ihre Brüste und ihre Lenden zu verbergen.
So stellen sie sich uns also vor? Ein Kichern brach aus ihr hervor, und sie schlug hastig eine Hand auf den Mund.
Nekaun lachte leise. »Ja, es ist sehr töricht. Nur wenige Landgeher haben jemals Elai gesehen. Sie wissen lediglich, dass ihr im Meer lebt, daher denken sie, ihr wärt halb Fisch, halb Mensch.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist der Grund, warum der Mann, der dich gekauft hat, dich so behandelt hat, als seist du ein Tier.«
Sie nickte, obwohl sie nicht verstand, warum diese Zeichnung jemanden auf die Idee bringen konnte, eine andere Person sei kein Mensch. Wenn sie Finger hatten, Kleidung trugen und reden konnten, mussten sie einfach Menschen sein. Sie jedenfalls hatte niemals einen Landgeher für ein Tier gehalten.
Nekaun machte einen Schritt zur Seite. »Komm mit. Ich möchte dir noch etwas anderes zeigen.«
Imi ging neben ihm her zu einer Tür in einer der Wände. Imenja folgte ihnen mit einigen Schritten Abstand.
»Die Bewohner anderer Länder haben auch eigenartige Vorstellungen, was mein Volk betrifft«, erklärte er ihr. »Sie sehen, dass wir einige Sklaven halten, daher vermuten sie, wir würden jeden versklaven, den wir zu unterwerfen wünschen. Aber wir versklaven nur Verbrecher. Die Versklavung eines Unschuldigen ist ein schwerwiegendes Vergehen. Die Strafe dafür ist Sklaverei. Der Mann, der dich gekauft hat, stammte nicht aus diesem Land, aber er kannte das Gesetz.«
»Ist es das, was mit ihm geschehen ist? Ist er versklavt worden?«
»Ja.«
Sie nickte. Ihr Vater hätte diese Regelung gebilligt.
»Wir haben noch andere Sitten, die Fremdländer missverstehen. Einige unserer Riten verlangen von uns, die Privatsphäre der Teilnehmer zu respektieren. Weil wir diese Geheimnisse hüten, denken Fremdländer, die Riten müssten von einer abstoßenden oder unmoralischen Art sein.« Er sah sie mit bekümmerter Miene an. »Vergiss das nicht, falls du von anderen Landgehern solche Gerüchte über uns zu hören bekommen solltest.«
Imi nickte. Wenn andere Landgeher ihr erzählten, Nekauns Volk sei schlecht, würde sie ihnen klarmachen, dass das Gegenteil zutraf.
Sie gingen durch die Tür in einen schlichteren Raum. Die Bilder an den Wänden zeigten Gruppen von Menschen, die jeweils aus einem Mann, einer Frau und einem Kind bestanden. Alle trugen unterschiedliche Kleidung und hatten verschiedene Haut- und Haarfarben. Eine Familie hatte große, gefiederte Flügel. Plötzlich verstand sie, warum die Siyee in dem anderen Raum ihr so merkwürdig erschienen waren. Sie legte eine Hand auf den Mund.
»Ja«, sagte Nekaun, obwohl sie diesmal keinen Laut von sich gegeben hatte. »Wir haben erst vor kurzem erfahren, wie falsch dieses Bild ist. Ich überlege, ob ich es korrigieren lassen soll oder nicht.« Er senkte den Blick. »Obwohl das nicht das ist, was ich dir hier zeigen wollte. Sieh einmal nach unten. Das Muster dieses Bodens ist eine Karte ganz Ithanias.«
Sie tat wie geheißen und sog erstaunt die Luft ein. In der Mitte eines blauen Bodens trieben große Gebilde. Sie waren angefüllt mit Bildern von Bergen, Seen und fremden Städten, die offen der Luft ausgesetzt waren und von trockenen Straßen unterteilt wurden. Nekaun deutete auf ein Gebilde, das wie eine Speerspitze geformt war.
»Das ist Südithania.« Er ging zu der Stelle hinüber, an der die Speerspitze auf ein erheblich größeres Gebilde traf, und deutete mit der Spitze seiner Sandale auf eine Stadt. »Dort sind wir: in Glymma.«
»Wo liegt Borra?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich hatte gehofft, dass du es mir würdest sagen können.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe die Welt noch nie von oben gesehen. Es ist alles… Ich habe noch nie etwas Ähnliches zu Gesicht bekommen.«
Er runzelte die Stirn. »Dann werden wir vielleicht nicht in der Lage sein, dich so schnell nach Hause zu bringen, wie wir gehofft hatten.«
»Warum fragt ihr nicht die Plünderer, wo sie mich gefunden haben?«
Er lachte leise. »Wenn das doch nur möglich wäre, aber wir haben im Hafen von Glymma keine Spur von ihnen entdecken können. Sie sind entweder aufgebrochen, nachdem sie dich verkauft haben, oder die Nachricht von deiner Rettung und den Schwierigkeiten, die deinem Käufer dadurch erwachsen sind, waren ihnen eine Warnung, und sie halten sich deshalb fern. Du musst uns sagen, wo deine Heimat liegt, Imi.«