Sie betrachtete die Karte eingehend und hielt Ausschau nach irgendetwas, das ihr vertraut erschien. Einige Bilder von Siyee in einem von Bergen bedeckten Gebiet erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie ging zu der Küstenlinie hinüber. Man konnte binnen weniger Tage von Borra nach Si schwimmen.
»Irgendwo im Ozean südlich von Si«, erklärte sie.
»Der Süden liegt in dieser Richtung«, sagte er und deutete auf einen anderen Teil der Karte.
Als sie das gewaltige blaue Gebiet betrachtete, sanken ihre Schultern herab. Keine der Inseln trug einen Namen. Wie sollte sie den Landgehern sagen, wo Borra lag, wenn es nicht auf der Karte zu finden war? Aber natürlich ist es nicht auf der Karte, dachte sie. Wenn es so wäre, hätten sie mich nicht fragen müssen, wo es liegt!
»Ist dein Volk jemals den Siyee begegnet?«, wollte Imenja wissen.
Imi blickte zu der Frau auf und nickte. »Wir treiben Handel mit ihnen.«
»Könnten sie uns sagen, wo deine Heimat liegt?«
»Vielleicht. Wenn nicht, könnte ich bis zum nächsten Besuch von Elai-Händlern in Si warten. Ich… ich weiß nicht, wie oft sie dort hinreisen.« Imi blickte auf die Karte hinab, und ein Stich der Sehnsucht durchzuckte sie. Sie war so weit gekommen, und jetzt, da sie frei war, nach Hause zu gehen, war sie sich nicht sicher, wie sie dort hingelangen sollte.
»Dann werden wir genau das tun«, sagte Imenja.
Neue Hoffnung stieg in Imi auf. »Ja?«
»Ja. Wir werden dich nach Hause bringen, Imi«, versicherte ihr Nekaun. »So bald wie möglich. Imenja meint, du würdest dich in einigen Tagen hinreichend erholt haben, um aufzubrechen.«
Sie sah ihn voller Eifer an. »So bald schon?«
Nekaun lächelte. »Ja. Imenja wird dich auf eins unserer Schiffe bringen, und sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um dich wieder mit deinem Vater und deinem Volk zu vereinen.«
Imi blinzelte gegen die Tränen an und schenkte Imenja und Nekaun ein dankbares Lächeln. »Vielen Dank«, flüsterte sie. »Ich bin euch ja so dankbar.«
Die Atmung des Mannes ging in gequälten Stößen. Auraya hockte sich auf den Boden und schloss für einen Moment erschöpft die Augen. Sie hatte zwar eine stärkere Spielart der Herzzehre erwartet, aber nichts derart Bösartiges. Jedes Mitglied des Stammes hatte die Krankheit bereits gehabt oder war noch immer ernsthaft krank. Einige hatten das Schlimmste inzwischen überwunden, aber nur mit Leiards Hilfe.
Wilars Hilfe, korrigierte sie sich.
Jetzt, da sie sich von ihrer Überraschung, ihn hier vorzufinden, erholt hatte, begann sie sich nach dem Grund für seine Anwesenheit in Si zu fragen. Er konnte vor seiner Ankunft in Si nichts von dieser Seuche gewusst haben. Die Siyee waren erst seit ein oder zwei Wochen krank, und er hätte Monate gebraucht, um das Dorf von außerhalb zu erreichen. Also musste er bereits in Si gewesen sein.
Warum? Ich verstehe, dass er sich von Jarime und Juran fernhält, aber es wäre doch gewiss nicht nötig gewesen, dass er seinen Namen und sein Aussehen ändert und sich an einem der entlegensten Orte Nordithanias niederlässt? Hatte er befürchtet, unsere Affäre würde zum Gegenstand des allgemeinen Geredes werden, und die Menschen würden versuchen, ihm Schaden zuzufügen? Hatte er befürchtet, ich würde versuchen, ihn für seine Treulosigkeit zu bestrafen?
Sie hätte ihm gern so viele Fragen gestellt, aber dann hätte sie schmerzliche Themen zur Sprache bringen müssen. Eigentlich hätte es ihr ein Leichtes sein sollen, die Antworten zu finden. Sie hätte in der Lage sein müssen, seine Gedanken zu lesen, aber sie konnte es nicht. Sein Geist war beschirmt. Sie war noch nie jemandem begegnet, der das zu tun vermochte. Hatte er diese Fähigkeit schon immer besessen oder erst in jüngster Zeit erworben? Konnten andere Traumweber sie von ihm erlernen? Was war, wenn alle Traumweber lernten, ihre Gedanken zu verbergen? Dann hätten die Weißen einen ihrer Vorteile verloren.
Bei der Erinnerung an das Hospital stiegen Gewissensbisse in ihr auf. Die Tatsache, dass sie auf die Entmachtung der Traumweber hinarbeitete, machte es umso schwerer, Leiard gegenüberzutreten. Das war ein weiterer Grund, warum sie ihm aus dem Weg gegangen war und ihm zuerst über Tyve und dann über Reet Nachrichten geschickt hatte.
Sie hatte Leiard häufiger herbeiholen müssen, als ihr lieb war. Eins der Heilmittel, die Leiard benutzte, war im Kampf gegen den Schleim in den Lungen der Opfer wirksamer als alles, was sie selbst mitgebracht hatte. Einige Stunden zuvor hatte ein Patient, der im Fieberwahn lag, darauf bestanden, dass er nur von »dem Traummann« behandelt werden wolle. Jetzt musste sie abermals nach Leiard schicken.
Der Zustand des Patienten vor ihr, eines Familienvaters in mittleren Jahren, verschlechterte sich rapide. Es war mitleiderregend zuzusehen, wie sein Körper gegen die Krankheit kämpfte. Sie vermutete, dass er bald sterben würde, und sie hielt es für klug, Leiard zu Rate zu ziehen, um den Siyee klarzumachen, dass er ihrer Einschätzung zustimmte. Wenn einer ihrer Patienten starb, würden vielleicht alle anderen ebenfalls nur noch von dem Traumweber behandelt werden wollen.
Als sie einen dumpfen Aufprall hinter sich hörte, drehte sie sich um und spähte aus der Laube. Reet stand draußen auf der Plattform und hustete leise. Seine Aufmerksamkeit galt Leiard, der an einem der zwischen den Plattformen befestigten Seile hing. Der Traumweber zog sich an dem dicken Seil entlang. Als er die Plattform erreichte, sah Auraya, dass seine Hände rot und wund waren. Sein Beutel hing an einem Tau um seine Taille.
Reet half ihm auf die Plattform. Leiard verschwendete keine Zeit, sondern eilte sofort in die Laube. Sein Blick begegnete für einen Moment dem Aurayas, aber seine grimmige Miene blieb unverändert. Er hockte sich neben sie, legte dem Mann eine Hand auf die Stirn und schloss die Augen.
Ungeheißen stieg eine Erinnerung an die wenigen Gelegenheiten auf, da sie ihn im Schlaf beobachtet hatte. Eine vergessene Sehnsucht befiel sie, und sie knirschte mit den Zähnen. Es ist lediglich ein Echo des Verlangens, das ich einmal verspürt habe. Ich liebe ihn nicht mehr. Sie zwang sich, an die Nächte der Wonne zu denken, die Chaia ihr geschenkt hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. Dergleichen Überlegungen lenkten sie zu sehr ab, und sie sollte sich auf ihren Patienten konzentrieren.
Als sie hinabblickte, verspürte sie jäh eine Mischung aus Überraschung und Hoffnung. Die Haut des Mannes war noch immer bleich, aber seine Finger und seine Lippen waren nicht länger bläulich verfärbt. Auch sein Atem war um eine Spur leichter und gleichmäßiger geworden.
Wie ist das möglich?, fragte sie sich. Ich habe ihm alles an Stärke gegeben, was man mit Magie bewirken kann, aber sein Körper hat nicht richtig gegen die Krankheit gekämpft. Sie hat ihn von innen zerstört. Leiard kann kein neues Fleisch schaffen, wo es bereits aufgezehrt wurde. Er kann den Körper nicht dazu zwingen, gegen die Krankheit zu kämpfen. Und er kann auch die Krankheit selbst nicht besiegen…
Oder vielleicht doch? Die Heilkünste der Traumweber waren denen der Zirkler überlegen. Leiard hatte sie als Kind lediglich mit den Medizinen vertraut gemacht, nicht mit den Heilmethoden der Traumweber. Seither hatte sich ihr keine Gelegenheit mehr geboten, einen Traumweber bei der Behandlung eines derart kranken Menschen zu beobachten.
Ein Schauder der Erregung überlief sie. Wenn die Traumweber wussten, wie man beschädigtes Fleisch neu schaffen und einen Körper dazu bringen konnte, gegen eine Krankheit anzukämpfen – wenn die Traumweber die Krankheit selbst zu besiegen vermochten -, konnten die Priester und Priesterinnen diese Fähigkeit von ihnen erlernen. Es würde zirklischen Heilern möglich sein, ungezählte Menschenleben zu retten.
Vielleicht sollte ich Leiard nicht länger aus dem Weg gehen, dachte sie. Vielleicht sollte ich ihn um Hilfe bitten… abermals. Bei dieser Überlegung verzog sie das Gesicht. Es ist ein Jammer, dass ich seine Gedanken nicht lesen kann, sonst wüsste ich, was er getan hat, und könnte ihm weiter aus dem Weg gehen.